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2.810 Verkehrstote in 2025Nächsten Frühling bitte einmal tauschen

Heike Holdinghausen

Kommentar von

Heike Holdinghausen

Die Zahl der Toten und Verletzten im Verkehr bleibt hoch, eine neue Verkehrspolitik bleibt aus. Vielleicht hilft ein kleiner Perspektivwechsel.

Bei einem schweren Verkehrsunfall wird die 41-jährige Frau und ihr vierjähriger Sohn überfahren Foto: Stefan Boness/Ipon

W elche Risiken eine Gesellschaft in Kauf zu nehmen bereit ist, sagt immer auch etwas über die dort herrschenden Machtverhältnisse aus. Denn – Achtung, jetzt wird es fies – es wiegen ja nicht alle Toten und Verletzten gleich schwer. Es wiegen solche schwerer, deren Tod oder Verletzung überwiegend als „nicht hinnehmbar“ oder als „unerträglich“ aufgefasst werden. 2.810 Tote im Straßenverkehr und 370.000 Verletzte, die sind hinnehmbar.

Dass die Zahlen seit einigen Jahren stagnieren, wird offenbar schon als Erfolg gewertet, denn etwa in Berlin werden Maßnahmen, die den Verkehr sicherer machten, wieder zurückgeschraubt. Anderes und andere sind wichtiger. Wer aber dominiert den Diskurs darüber, welche Opfer notgedrungen hinzunehmen sind – und welche keinesfalls? Wer gewinnt in den politischen Aushandlungsprozessen, in denen Einschränkungen und Verbote beschlossen werden, die Risiken minimieren? Und wessen Perspektive setzt sich durch, wenn wir unsere Lebensräume gestalten?

Um mit der letzten Frage zu beginnen: Nicht die der Kinder, nicht die der Hochbetagten, nicht die der Flaneurinnen, Fußgänger, Radlerinnen, Rollerfahrer, nicht die der Armen, die sich kein Auto leisten können. Das ist so empörend wie unverständlich, weil doch fast jeder und jede einmal in deren Strümpfen steckte oder stecken wird. Männer, die morgens mit ihrem Auto durchs Wohnviertel zur Arbeit brausen, sind Väter und Söhne, nur so als Beispiel.

Damit auf deutschen Straßen also nicht mehr jährlich 2.810 Menschen sterben und 370.000 verletzt werden, wären Perspektivwechsel nötig, andere Mehrheiten in den Parlamenten, eine Diskursverschiebung. Doch das wird es alles absehbar nicht geben. Vielleicht wäre es ein Anfang, nächstes Jahr einmal zu tauschen, an einem schönen Tag im Frühling: Alle, die sonst Auto fahren, spazieren oder radeln dahin, wohin sie wollen. Und in ihr Auto steigen dann alle, deren Beine ans Gaspedal reichen oder deren Rollator in den Kofferraum passt. Kleinere Blechschäden werden hingenommen.

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Heike Holdinghausen
Redakteurin für Wirtschaft und Umwelt
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10 Kommentare

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  • Hätte das Verkehrsmittel ÖPNV ähnliche Opferzahlen, würde sie keiner nutzen.



    Danke übrigens für die Nennung der Verletzten - 370.000 - im Artikel. Da sind auch schwer Versehrte dabei.

  • Das Auto ist eben Deutschlands heilige Kuh.

  • Ich werde regelmäßig mit Licht und Ton angehupt, wenn ich im Dunkeln beim Rechtsabbiegen einen unbeleuchteten Radfahrer auf einem unbeleuchteten Radweg sehe und warte bis er sicher vorbei ist. Eltern lassen ihr 7-jähriges Kind bei Dunkelheit zur Straßenseite hin aussteigen (gestern gesehen). In den 70er Jahren gab es eine Kampagne in den Massenmedien mit Aufkleber "Hallo Partner Dankeschön" oder "Der Siebte Sinn" vor dem Tatort. Es ist Erziehungssache. Wir hatten in den 70ern in der alten Bundesrepublik 21.000 Verkehrstote, jetzt sind es 2.900 in Gesamtdeutschland. Das sind pro Jahr 400 weniger.



    Wer "zutiefst erschüttert" (DVR) ist oder schöngeistige Betrachtungen zur Verkehrsutopia schreibt (dieser Artikel), dem traue ich nicht zu, dass er auf dem Durchschnittsstand der letzten 50 Jahre kommt. Es ist Erziehungssache, da hilft auch kein "Müdigkeitswarner", der am hellichten Tag ab Fahrtbeginn pro Stunde ca. 1 bis 2 mal die Aufmerksamkeit hinlenkt wo sie nicht hingehört. Die Kampagne "Angles Morts" ist auch schon wieder vorbei, obwohl sie als Dauerkampagne konzipiert gehört und "Angles Mortels" heißen müsste. Damit fängt die Wirkungslosigkeit an .

  • In den USA werden die Erschossenen einfach hingenommen und bei uns die Verkehrstoten.



    Wenn ich dann lese, dass bei einem Verkehrsunfall drei Menschen gestorben sind und danach gleich der materielle Schaden beziffert wird und, ganz wichtig, die Automarken genannt werden, dann wird völlig klar was bei uns Priorität hat.



    Das Überleben auf der Strasse ist ein Glücksspiel. Autos mit 600 PS brettern über die Autobahnen. Gebaut wie Panzer.



    Die Geschwindigkeit wird lediglich durch Baustellen vermindert. Zebrastreifem werden nicht gemalt, weil hierzulande das nur geht, wenn eine Lichtanlage dazu gebaut wird und deshalb zu teuer ist.



    Fahradstreifen mit unterbrochenen Linien werden von Autofahrern ignoriert und auch gern als Parkstreifen missbraucht. Der Autoverkehr wächst und wächst.



    Die Verkehrsleichen sind dann eben die Kollateralschäden unseres Autoverrückten Landes.



    Ein Blick zu den Niederlanden oder nach Skandinavien reicht, um zu begreifen, dass es auch anders geht.

  • Vorab: Bin oft in der Schweiz und in Italien auf der Autostrada unterwegs, genieße die dortigen Tempolimits.



    Zum Perspektivenwechsel und jenseits der Suggestivfrage, welche Toten und Verletzten "schwerer" wiegen gehört das Folgende:

    1. Wie verteilen sich Tote und Verletzte in Größenordnungen auf Stadt und Land, auf Autobahnen, Landstraßen oder innerorts.

    2. Welche Bevölkerungsgruppen in Größenordnungen sind betroffen nach Fußgängern, Radfahrern, Autofahrern, Kindern oder alte Menschen.

    Vielleicht noch 3. Gibt es Auwertungen zu den jeweiligen Schuldfragen?

  • Ein guter Kommentar und tatsächlich hilft mir oft die Erfahrung als Radfahrer beim rücksichtsvollen Auto fahren und umgekehrt. Ich kann mir auch gut vorstellen, wie man auf dem riesigen 40Tonner in der fremden Stadt im Toten Winkel irgendwen mit tödlichen Folgen übersieht. Die alte BRD hat bei geringerer Fahrzeugzahl mal über 20.000 Tote im Straßenverkehr gezählt in den 70gern. Tatsächlich waren sogar die Einführung der Gurtpflicht schwer umstritten. Und aktuell gibt es viele Versuche den Radwegeausbau zu stoppen (Parkplatz...) oder den Fußgängern das Leben eher schwerer zu machen. Die immer größeren Autos und Lieferfahrzeuge brauchen natürlich Platz und es ist klar, wer die stärkste Lobby hat. Wer sich die Laune verderben will wird mal durchrechnen, welche Industrie summa summarum die meisten Opfer auf dem Kerbholz hat pro Arbeitsplatz und Aktienwert.

    So will ich aber nicht denken, sondern in dem (Verkehrs-) Raum werfen, dass wir doch, wenn alle ein bisschen umsichtiger und freundlicher unterwegs sind, die Zahlen weiter nach unten gehen werden. Über die Jahrzehnte ist statt dessen das Klima leider doch deutlich rauer und der Verkehr auch viel dichter geworden.

    • @ttronics:

      In der Tat ist wohl auch hier eine Mischung aus Anreize-massiv-Korrigieren und Selbst-mit-Energie-Anpacken wohl das Sinnvolle.



      Als Radler auch auf Fußgängers achten, als Automobilist auch auf diese zwei Gruppen. Auch mal wieder andere einfach vorlassen und den Kampfmodus woanders ausleben.



      Und eben die teure wie unsoziale Bevorzugung von Auto (und Flug) beenden. Nicht nur fürs längere, auch fürs bessere Leben.

  • Wir opfern dem Moloch weniger, aber immer noch schon einiges. Haben wir keinen Ehrgeiz im Leib? Von anderen Geschwindigkeiten, Verhaltensweisen bis zu anderer Infrastruktur, die allgemein an Menschen ausgerichtet ist, nicht nur an manchen davon.

    Nicht vergessen: Als Kind oder irgendwann im Alter ist eigenes Autofahren keine Option (mehr) - ÖPNV o.ä. auch in der (weniger zersiedelten) Fläche ist wichtig für alle.



    Und vorher nicht im Unfall zerlegt werden.

  • "Zahl der Toten und Verletzten im Verkehr bleibt hoch"

    Was ist eigentlich "hoch"?

    Die Zahlen der Verkehrstoten sinken kontinuierlich seit mehreren Jahrzehnten.

    Vor 2019 waren es stehts über 3.000, vor 2009 mehr als 4.000 bzw. 5.000.

    Im Jahr 1970 gab es unvorstellbare 19.193 Verkehrstote.

    Die Zahl der Verkehrstoten ist seit 2019 eigentlich so niedrig wie nie zuvor.

    Und das bei deutlich mehr Verkehr und Eunwohnern.

    Ja, jeder Tote ist einer zuviel.

    "Dass die Zahlen seit einigen Jahren stagnieren, wird offenbar schon als Erfolg gewertet "

    Vermutlich.

    Wenn die Zahlen sich auf einem - in Relation zu den vorangegangenen Jahrzehnten - niedrigen Niveau stabil einpendeln, ist diese Sichtweise nicht völlig absurd,

    Natürlich kann man auch eine andere Sichtweise begründen.

    Dennoch fühle ich mich von diesem Artikel aufgrund des Framings in der Überschrift in die Irre geführt.

  • Vielleicht liefert die taz zu diesem Meinungsartikel ja noch einen Sachartikel nach. Es wäre interessant eine Auswertung zu Unfallursachen zu erhalten. Dass alle zu Fuß gehen oder Radeln sollen klingt ja nett, aber ist ja kein echter Diskussionsbeitrag zum Thema Verkehr und Transport.