Der Homer des Spessarts

Eine Ausstellung in Steinau erinnert an Hans Traxlers Brüder-Grimm-Persiflage "Die wahre Geschichte über Hänsel und Gretel" von 1963.
Die Frankfurter Rundschau lobte in ihrer Ausgabe vom 21. Dezember 1963 die „Gründlichkeit, mit der das erste märchenarchäologische Werk der Weltgeschichte verfasst wurde“. Sollte eine tiefergehende Untersuchung die Aussagen des Buches bestätigen, so sei der Verfasser als „erster Ordinarius“ eines Lehrstuhls „Märchenarchäologie“ nach Frankfurt zu berufen.
Die FR war damit in guter Gesellschaft: Viele namhafte Zeitungen zeigten sich begeistert von dem, was der Hobbyarchäologe Georg Ossegg aus Aschaffenburg bei Grabungen zutage gefördert haben wollte und in „Die Wahrheit über Hänsel und Gretel“ zu Papier brachte. So wie sein Vorbild Schliemann auf den Spuren Homers wandelte, entdeckte Ossegg im Spessart die Reste des Hexenhauses und „nebenbei“ auch noch den wahren Hintergrund des Märchens. Wenig später entpuppte sich Georg Ossegg als Kunstfigur und die wissenschaftliche Sensation als großartiges Schelmenstück des Satirikers Hans Traxler, 1979 Mitbegründer des Magazins Titanic und in den 80ern Erfinder der „Kohl-Birne“.
Seinem frühen Meisterwerk „Die Wahrheit über Hänsel und Gretel“ widmet das Brüder-Grimm-Haus in Steinau jetzt eine Ausstellung. Als hätte sich alles wirklich so zugetragen, wird das Wirken Osseggs dokumentiert. Zu sehen sind Werkzeuge des Freizeitforschers, eine handgezeichnete Skizze vom Gebiet jenseits der Autobahn Aschaffenburg-Würzburg und Auszüge des Tagebuchs. Am 10. Mai 1962 heißt es dort: „Ich war noch keine halbe Stunde unterwegs, da hatte ich auf einmal ein seltsames Gefühl. Mir war, als wäre ich diesen Weg schon einmal gegangen ...“ Er führte Ossegg geradewegs zur Hexe: Ein Modell rekonstruiert ein Fachwerkhaus und eine Armada von Öfen mit Kuppeldächern. Ausgestellt sind auch „originale Funde“, etwa Ofenklappen und Reste verkohlter Lebkuchen, die – so ist zu erfahren – die Bäckerin mit Hirschhornsalz herstellte.
Und um dieses Rezept ging es in der Geschichte von „Hänsel und Gretel“ – die sich ganz anders zugetragen haben soll als bei den Grimms: Die angebliche Hexe Katharina Schraderin war eine schöne Frau und erfolgreiche Bäckerin, weshalb Hofbäcker Hans Metzler sie beneidete und begehrte. Um seinen Nachstellungen zu entgehen, zog die Bäckerin in ein einsames Haus im Spessart. Metzler schwärzte sie bei der Inquisition in Gelnhausen an. Ossegg – was Wunder – fand die Verhöre von damals, die „Beschreybung der hoch Notpeinlichen Befragung“. Die Schraderin überstand die Folter, so dass Hans und seine Schwester Gretel die Sache selbst in die Hand nahmen und der Bäckerin ein grausames Ende in einem ihrer Öfen bereiteten. Das Lebkuchenrezept entdeckten die Mörder jedoch nicht.
Wer den Hintergrund nicht kennt, kann dem Jux beim Gang durch die Ausstellung durchaus aufsitzen – auch wenn am Ende alles aufgeklärt wird. Alle, die die Persiflage (für die gegen Traxler wegen Betruges ermittelt wurde), selbst lesen wollen, können im Brüder-Grimm-Haus die Neuauflage erwerben.
Die Ausstellung: Bis 29. Mai täglich von 12 bis 17 Uhr im Brüder-Grimm-Haus Steinau, Brüder-Grimm-Straße 80.