Ab einer größeren Followerzahl kann es passieren, dass Videos mehr Menschen angezeigt werden als sonst. Ab 100.000 Views spricht man davon, dass es viral geht. Aber wie fühlt es sich eigentlich an, im Zentrum dieser Viralität zu sein? Ein Erfahrungsbericht.
In meiner Heimat, im Ruhrgebiet, nahmen die Bergarbeiter einst Kanarienvögel mit unter Tage, um die unsichtbaren Gefahren des Bergbaus früh zu erkennen: Starb der Vogel oder hörte er auf zu singen, wussten die Bergleute, dass giftige Gase oder Sauerstoffmangel herrschten und brachten sich in Sicherheit.
Hasskommentare sind meine Kanarienvögel. Wenn ein, zwei Stunden nach dem Posten damit gedroht wird, dass man mir den Kopf spaltet, weiß ich, dass ein Video meine Bubble verlassen hat.
Viralität als Normalität
Zunächst mal: Ich teaserte ja an, dass ich auch erklären wollte, was man fühlt, wenn das passiert. Wenn ein Video also die 100.000er-Marke bricht. Nun muss man dazu sagen, dass es nicht wenige Menschen geben wird, die sagen: "Junge, kein Wunder! Von echter Viralität sprechen wir erst ab einer Million Views." Und das stimmt. Es hängt davon ab, wie viele Follower jemand hat und auch, was er oder sie als viral bestimmt. Ich habe schon kleine Creatoren gesehen, die sich darüber freuten, 10.000 Views zu haben und "viral gegangen" zu sein. Fair enough.
Meine viralsten Videos haben an die zwei Millionen Views. Das ist aber nichts, wenn man sich anschaut, was vor allem in US-amerikanischen Raum auf TikTok passieren kann. Zach Kings "Magic Ride", bei dem es so aussieht, als würde er auf einem Besen reiten, hat bisher 2,3 Milliarden Views.
Dass ich also bei ein paar Hunderttausend Views über meine "Erfahrungen" schreibe, ist fast schon ein wenig peinlich. Aber es ist so: Für viele Creators ist Viralität die Normalität. Das heißt, dass sie eine Fantasienummer im Kopf haben, die ein Video erreichen muss. Ansonsten sind sie unzufrieden. Das ist bei mir nicht anders, obwohl ein Video, dass "nur" 50.000 Views erhält, immer noch ein Fußballstadion voll mit Menschen wäre.
Hass, Kritik und Differenzierung
Kommen wir zurück zu viralen Videos. Vor nicht allzu langer Zeit postete ich ein Video, bei dem ich einige Songs vorstellte, die man in der Schule thematisierten könnte. Darunter beispielsweise "Hi, Ren!" vom gleichnamigen Künstler Ren, der in einem Selbstgespräch über seine psychische Gesundheit rappt. Das Reel auf Instagram hat, Stand jetzt (20. November), mehr als 600.000 Views und mehr als 2.000 Kommentare. Darunter sammeln sich vor allem weitere gute Lieder. Wenn man es auswerten würde, hätte man Diskussionsmaterial für die nächsten paar Jahre.
Es gab aber auch Kritik: Zum Beispiel wurde darauf hingewiesen, dass die Lieder alle von männlichen Künstlern waren. Und ja, ich hatte das gar nicht reflektiert. Das schrieb ich auch. Was dann kam, können sich alle denken: Die einen, die meinen, dass das doch keine Rolle spiele. Und die anderen, die meinen, dass es doch eine Rolle spiele und dass die, die dem widersprechen, Teil des Problems seien. Und so weiter.
Andere Kritiken bezogen sich auf die Auswahl (zu alte Songs), politische Einstellungen (zu links), Genre (zu viel Hip-Hop) und so weiter und so fort. Und natürlich jene, die beginnen, einem den Tod an den Hals zu wünschen. Der eigentliche Punkt ist: Ab einem bestimmten Punkt der Viralität kann man es gar nicht allen recht machen.
Wie schaffen wir es, uns zu einigen?
Ich hoffe, dass ich die geneigten Lesenden nicht vor den Kopf stoße, wenn ich ganz scharf abbiege und mich frage: Wie sollen wir uns eigentlich darüber einig werden, was ein gutes Leben in einer offenen Gesellschaft ist, wenn wir uns noch nicht mal auf ein paar Lieder einigen können? Anders gesagt: Ich wollte heutzutage keine Partei mehr gründen wollen (eine Vereinigung also, die darauf angewiesen ist, dass viele Menschen zentrale Aspekte einer Weltanschauung teilen).
So sehr die Differenzierung einer Diskussion Vorteile hat (nehmen wir das obere Beispiel: Ich höre so viele Künstlerinnen, dass es kein Problem gewesen wäre, sie einzubinden), so schwierig macht es Konsens. Ich erinnere mich immer noch mit Schrecken an die lokale Freiburger Facebook-Gruppe, in der eine Mutter erklärte, dass sie ihrer Tochter Muffins zum Geburtstag machte. Irgendwo am Ende des Gesprächs war die Mutter nicht nur eine Rabenmutter, sondern quasi nur noch einen Kommentar davon entfernt, Hitler zu sein.
Empfehlungen der Redaktion
Eine Lösung habe ich selbstverständlich nicht. Für mich selbst bedeutet das: Entweder damit leben, dass es Tausende Meinungen zu dem gibt, was ich anbiete, oder die Konsequenzen ziehen. Damit wir uns richtig verstehen: Solange es Meinungen sind. Denn Morddrohungen, wie sie so viele Menschen erleben, kann keiner rechtfertigen wollen. Auch wenn man der Auffassung ist, dass Sting längst out ist und Torten viel besser zu einem Geburtstag passen als Muffins.
Über den Autor
- Bob Blume ist Buchautor, Content Creator und Bildungsaktivist. Auf Instagram hat er als @netzlehrer 200.000 Follower. Er ist Experte in der deutschen Medienlandschaft zum Thema Schule und Bildung und wurde bei der Verleihung der Goldenen Blogger 2022 als Blogger des Jahres ausgezeichnet. Für die Newsportale von 1&1 schreibt er über Phänomene im Netz.