Das ganze Netz ist voll von Listen, in denen die Nutzer von Spotify vorzeigen, was sie am meisten gehört haben, wie lange sie gehört haben und wer ihre Favoriten sind. Das könnte interessant sein, wenn wir nicht so sehr mit der eigenen Darstellung beschäftigt wären, dass wir gar keine Zeit mehr für all die Listen haben.
Schnappt euch einen Tee, Opa erzählt vom Krieg. Also fast. Ich möchte mich kurz mit euch an die gute alte Zeit der Mixtapes erinnern. Das ist ironisch, denn unter uns: Ich schreibe diese Kolumnen auch, damit ein jüngeres Publikum die Inhalte auf dieser Plattform interessant findet. Wenn diese Passage drinbleibt, heisst das also, dass der Algorithmus euch für jung genug hält. Und wenn ihr zwar den Begriff Mixtape schonmal gehört habt, aber den entsprechenden Gegenstand noch nie in der Hand gehalten habt, dann heisst das, dass ihr tatsächlich jung seid.
Mixtapes hatten viele Bedeutungen: Sie waren der Beweis für Geschmack, der Beleg für eine individuelle Persönlichkeit und vor allem Liebesbeweise. Um die 2000er herum habe ich von einer Freundin ein Mixtape bekommen, das alles davon war. Obwohl ich mir bei der Liebe nicht so sicher war. Ein geschenktes Mixtape hatte jedenfalls immer die Bedeutung: Ich habe mich hier hingesetzt und fucking stundenlang Lieder aufgenommen. Für dich.
Anstrengende Geschmacksgrenzen
Das ist natürlich alles romantisch verklärt. Denn eine weitere Wahrheit ist auch, dass Mixtapes, zumindest die auf der Kassette und nicht jene auf CD, die man nur noch aus Gründen der Nostalgie so nannte, sehr anstrengend sein konnten. Zum Beispiel die Kassette der Freundin. "Prison Is Private Property" von Rocky Votolato (ja, der heisst wirklich so) – ein fantastisches Lied. Danach kam irgendwas, das sich anhörte, wie ein sehr langes, unterdrücktes Schreien von jemandem mit einer Handvoll Murmeln im Mund. Dann musste man von Hand vorspulen, damit man sich das wieder anhören konnte. Das war schlimm.
Aber es bedeutete, dass man seinen Geschmack erweiterte, oft auch da, wo man es gar nicht wollte. Ein wenig galt das auch für die Alben. Damals kaufte ich ein Album und hörte ein halbes Jahr immer nur ein Lied. Bis ich versehentlich mal durchhörte und tatsächlich die anderen Lieder der Band genauso geil fand. Ist peinlich, das zu sagen. Also behaltet es für euch. Gute Alben waren ein Gesamtkunstwerk. Hört euch mal "An Awesome Wave" von Alt-J an. Echt jetzt. Und dann können wir darüber reden. Ach ne, geht ja nicht mehr. Warum? Jetzt kommt der kulturkritische Teil.
Spotify Wrapped
Ich muss zugeben, dass ich für diese Kolumne gar nicht recherchiert habe, warum Leute eigentlich so auf Spotify Wrapped abfahren. Was genau ist jetzt das fantastische Interessante daran? Wenn ich wissen will, was ich gehört habe, schaue ich auf meine Playlist. Und jetzt muss ich erstmal was zugeben: Ich habe das alles auf Apple Music. Ja, es gibt tatsächlich Leute, die Musik darüber hören, auch wenn ihr wahrscheinlich dachtet, dass bei mir unter Vinyl nichts geht.
Würde ich echt auch machen, wenn ich nicht Mitte 20 meine Plattensammlung verkauft hätte und noch nicht mal mehr weiss, für was. Bei mir ist es also Apple Music. Und das nicht erst, seitdem wir wissen, dass Spotify in Kriegsaktien investiert (sorry, falls das an euch vorbei ging und ich euch damit eine weitere Firma madig mache). Aber Apple Music geht mir genauso auf den Sack: Wusstet ihr, was mein Lieblingssong diesen August war? Nein? Wieso solltet ihr auch, because who the fuck cares.
Worüber können wir sprechen?
Also jedenfalls kommt jetzt, ich gebe zu, sehr spät im Text, die eigentliche Kritik. Letztens war jemand bei uns zu Besuch. Eigentlich kaufen wir in seinem Laden unsere Möbel, aber wir haben bei den Besuchen gemerkt, dass wir auch mal tanzen gehen könnten. Jetzt sind wir in einem Zustand zwischen Bekanntschaft und Freundschaft und versuchen die Grenzen zu überwinden, was meistens daran scheitert, dass man in meinem Alter (das ich euch nicht sage) meistens nur alle drei Monate daran denkt, dass Sozialkontakte auch eine gute Sache wären.
Wir sassen jedenfalls letztens in der Küche und sprachen darüber, wie schön nicht nur das Hören von Musik ist, sondern auch, darüber zu sprechen. Wie über einen Tatort, den alle geschaut haben. Das letzte Mal ist mir das bei "Norman Fucking Rockwell!" von Lana Del Rey so gegangen. Ich stand da mit einem anderen Freund und wir zeigten uns die Lieder, die wir am besten fanden. Das sind jetzt schon zwei Sozialkontakte. Krass, oder?
Die Vermessung der Einsamkeit
Das Ding ist: Ich mag sie schon auch, die Algorithmen, die mir zeigen, was ich mögen könnte. Und ich mag es auch, dass ich nicht das ganze Album durchhören muss, nur um zu verstehen, dass ich von der Band nur das eine Lied mochte (schöne Grüsse an "Books From Boxes" von Maximo Park). Meine Playlist ist toll! Ausser ihr fragt den erwähnten Freund.
Empfehlungen der Redaktion
Das von Lana Del Rey war wohl das letzte Album, bei dem er mir irgendeine Form von Musiksachverstand zugestand. Meine boomermässige Kritik an der überbordenden Spotify Wrappisierung der Welt ist insofern gar nicht, dass ich es nicht schön finde, dass wir Musik feiern (während die Künstler mit einem feuchten Händedruck abgespeist werden, sofern sie nicht Taylor Swift heissen). Es geht mir eher darum, dass ich immer öfter das Gefühl habe, dass wir innen etwas verlieren, wenn es im aussen mehr wird.
Letztes Jahr in der Kirche sprach ich mit jemandem darüber, dass uns die christliche Geschichte nichts mehr sagt. Und dass wir stattdessen an Heiligabend zuhause mit Freunden Lieder hören sollten. Jene, die das Jahr geprägt haben. Dank der Vermessung unserer Playlists über Spotify oder Apple wissen wir das ja jetzt, ohne dass wir nachdenken müssen. Das wäre doch eine Idee, damit man nicht einsam sein Wrapped in der Story teilt, damit alle sehen, wie einzigartig man ist. Und wie einsam.
Über den Autor
- Bob Blume ist Buchautor, Content Creator und Bildungsaktivist. Auf Instagram hat er als @netzlehrer 200.000 Follower. Er ist Experte in der deutschen Medienlandschaft zum Thema Schule und Bildung und wurde bei der Verleihung der Goldenen Blogger 2022 als Blogger des Jahres ausgezeichnet. Für die Newsportale von 1&1 schreibt er über Phänomene im Netz.