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Aus den Briefen der Verweigerer: "Ich möchte mich nicht zum Spielball (...) machen"

Foto: Georgi_Licovski/ dpa

Verweigerungsbriefe Die Nein-Sager

In Deutschland wird in diesem Jahr die Wehrpflicht ausgesetzt, mit ihr endet vorerst auch die Ära der Verweigerungsschreiben. einestages blickt zurück auf wütende, nachdenkliche und verzweifelte Briefe von jungen Männern, die die Bundeswehr boykottierten - oder ganz schnell verlassen wollten.
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Der Brief des jungen Mannes stammt aus den neunziger Jahren und war adressiert an das Kreiswehrersatzamt. Mehrere Schreibmaschinenseiten umfasst die sogenannte Gewissenserklärung. Als Fanal, ganz am Schluss, hatte er sogar Wolfgang Borcherts Antikriegsmanifest komplett abgetippt. "Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins: Sag NEIN!"

Seit 1956, sieben Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik, hatte Deutschland wieder eine Armee gehabt; zu groß war das Trauma nach den zwei Weltkriegen mit dem deutschen Militär als treibender Kraft gewesen. Ein Dreivierteljahr nachdem die BRD in die Nato aufgenommen worden war, wurden Mitte 1956 die ersten Männer als Soldaten einberufen, es war der Beginn der Wehrpflicht - und seither konnte man auch NEIN zum Dienst bei der Bundeswehr sagen. Schriftlich.

Am 1. Juli 2011, wenn die Wehrpflicht nach 55 Jahren ausgesetzt wird, endet vorerst auch die Ära, in der Jahrgang um Jahrgang junger Männer seitenlang ihre Entscheidung gegen den Kriegsdienst laut Grundgesetz "aus Gewissensgründen" begründen mussten. einestages hat Verweigerungsschreiben aus fünf Jahrzehnten ausgewertet und es zeigt sich: Das bürokratische Prozedere der Verweigerung änderte sich kaum - die Argumentationen jedoch schon. In den Schreiben an die Kreiswehrersatzämter spiegelt sich deutsche Geschichte.

1963 schrieb der damals 22-jährige Eckard Bretzke, heute Pastor im Ruhestand, in seiner Verweigerungsbegründung fast 20 Jahre nach Kriegsende: "In den ersten Nachkriegsjahren war man unter dem Eindruck des nicht zu fassenden Elends allgemein gegen jegliche Aufrüstung, zumal man auch überzeugt war, Gott selbst habe dem Deutschen Volk die Waffe aus der Hand geschlagen. Franz Josef Strauß sagte 1949, dass jedem die Hand abfallen solle, der eine Waffe in die Hand nehme." In Japan habe man, ergänzte Bretzke, nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki konsequenterweise den Pazifismus in der Verfassung verankert. Nicht so in Deutschland.

Wer verweigerte, konnte seine Lebensplanung vergessen

Im Kalten Krieg wurde neben der deutschen Vergangenheit auch die Existenz der DDR zum Verweigerungsgrund. Der damals 19-jährige Andreas Goll (Name geändert) schrieb 1984: "Mir ist z.B. stets unverständlich geblieben, wie man als Deutscher eine ganze Armee nach Osten ausrichten kann, wo doch dort ein Teil unseres eigenen Vaterlandes liegt und somit das oft angeführte Argument der Vaterlandsverteidigung hinfällig wird." Im Kriegsfall als Deutscher "das eigene Land vor dem eigenen Land verteidigen", sei vehement abzulehnen. Ein anderer erinnerte sich an die Aussichtsplattform in Berlin, direkt an der Mauer: "Direkt daneben befand sich ein Holzkreuz eines 1961 erschossenen DDR-Bürgers. Beim Beobachten der Grenzsoldaten im Wachturm oder auf Streife wurde mir schmerzlich bewusst, was es für mich bedeutet hätte, dort Dienst zu tun."

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Aus den Briefen der Verweigerer: "Ich möchte mich nicht zum Spielball (...) machen"

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Ein Gedanke, der auf der anderen Seite der Mauer ebenfalls wichtig war. Markus Meckel, letzter Außenminister der DDR 1990 und bis 2009 für die SPD im Bundestag, schrieb zwischen 1970 und 1975: "Es kommt dazu, dass ich mich im Falle eines Krieges gegen Freunde und meine eigenen Verwandten wenden müsste, die in der Bundesrepublik wohnen." In der letzten Passage der für BRD-Verhältnisse mit einer Seite Text sehr kurzen Begründung heißt es: "Diese meine Entscheidung wendet sich nicht gegen unseren Staat!"

"Ich wollte nicht als Staatsfeind auftreten", erklärt Meckel heute. "Diesen Vorwurf wollte ich von vorneherein ausschließen." Stattdessen bot er an, "zivilen Friedensdienst" zu leisten, um "beim Aufbau unserem sozialistischen Staate" mitzuhelfen. Auch da war er seiner Zeit voraus: Erst Anfang der achtziger Jahre formierte sich eine Gruppe um Rainer Eppelmann, die diesen Ersatzdienst forderten. Meckels Haltung begann sich in jenen Jahren zu ändern, er hält den Wehrdienst längst für richtig: "Heute, in einem völlig anderen politischen Kontext, sage ich: Gerade vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit können wir uns nicht raushalten - egal ob beim Kosovo-Krieg oder beim Einsatz in Afghanistan."

Der andere wichtige Faktor des Kalten Krieges: Atombomben. Auch für Georg Alt (Name geändert) war das eine realistische Vorstellung, als er, der Reserve-Offizier, 1985 im Alter von 44 Jahren seine Verweigerung schrieb. Er war in ein Dilemma geraten, ausgelöst durch eine Sitzblockade von Friedensaktivisten. "Ich half für die Dauer von sechs Stunden mit, die militärische Maschinerie zu behindern", erklärt er in seinem Schreiben. "Die Tatsache, dass ich als Reserve-Leutnant der Bundeswehr Soldaten an der Verrichtung ihrer Dienstpflichten hinderte, wurde mir mit meinem Tun erst so richtig bewusst."

Alt, der längst als Richter praktizierte, stark in der Friedensbewegung involviert war und zwei Töchter hatte, verbrannte seinen Wehrpass: "Ich fand, dann muss ich das Ganze auch formal beenden." Er schrieb in seiner Verweigerung, er "sah und sehe zwischen den Atomwaffenlagern unserer Tage und den Konzentrationslagern von damals eine unheilvolle Parallele". Bedrohlich sei es gewesen, klar, sagt Alt, doch: "Historisch ist dieser Vergleich natürlich voll daneben, aber das war Teil der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unserer Eltern."

Anfang der neunziger Jahre schien die Sicherheit der Bundesrepublik dann derart stabil, dass einer gar fand: "Die Bundesrepublik wird militärisch nicht bedroht. Unabhängig davon, ob man der Meinung ist, dass eine solche Bedrohung jemals bestanden habe, ist seit den Umwälzungen in Osteuropa den offiziellen Begründungen für Rüstung und Militär jede Grundlage entzogen."

Passend zu den Ereignissen und technologischen Entwicklungen in diesem Jahrzehnt zeigen sich zwei Tendenzen: Die jungen Männer verweisen auf einmal auf Begegnungen mit Neonazis, um ihre ablehnende Haltung gegenüber Gewalt zu erläutern. Und wie die Auswertung von einestages zeigt, werden die Schreiben immer konformer - dem Internet sei Dank. Weit ausholende, reflektiert argumentierende Texte werden seltener, die Themenblöcke ähneln sich zunehmend, online kursierende Vorlagen machen's möglich. Wahrscheinlich taucht deshalb ausgerechnet Erich-Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" in vielen Schreiben auf, wenn die jungen Verweigerer erklären, wieso sie die Schrecken des Krieges nachvollziehen können. Ein Roman von 1928.

Es verweigerten auch viele Bundeswehrsoldaten

Die Stimmung änderte sich abrupt mit den Anschlägen auf das World Trade Center. Wurden 1963 noch 3311 Anträge auf Wehrdiensterlass eingereicht, lag die Zahl für 2001 wegen des 11. September 2001 bei knapp 190.000. Wie Anfang der Achtziger, als die Anti-Atom- und Friedensbewegung einen Höhepunkt erreichte, verweigerten seither auch viele junge Männer, die bereits in der Bundeswehr waren. Ein 19-Jähriger begründete seine Entscheidung nach seinem Grundwehrdienst 2009 mit der Stationierung deutscher Truppen in Afghanistan: "Durch meine Position als Soldat begann ich darüber nachzudenken, ob ein militärischer Einsatz gegen ein Land durch diese Anschläge gerechtfertigt sei."

Statt ABC-Waffen und Atombomben-Angst nun also Afghanistan: Der Krieg war wieder so real in Deutschland, dass schließlich sogar Verteidigungsminister zu Guttenberg das Wort in den Mund nahm. Als Bundeswehrsoldaten im Einsatz am Hindukusch ums Leben kamen, wie im Frühjahr 2010, entschloss sich auch ein 27-jähriger ausgebildeter Bundeswehroffizier, vor ein paar Monaten den Dienst zu quittieren. "Die Trauer und das Leid der Familien haben mir innerlich so stark zugesetzt, dass ich während der Beisetzung im Fernsehen geweint habe." Er wolle zudem "nicht beteiligt sein, Trauer bei Familien zu verbreiten, indem ich ihnen ihre geliebten Menschen nehme".