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Wehrdienst-Debatte – Ist eine Wehrpflicht unbedingt nötig?
Seit 2011 müssen junge Männer in Deutschland keinen Wehr- oder Zivildienst mehr leisten. Die Wehrpflicht ist jedoch nur ausgesetzt: Das Gesetz besteht immer noch und könnte vom Bundestag mit einfacher Mehrheit wieder aktiviert werden. Seit Mitte 2024 ist dies Gegenstand wiederkehrender Debatten. Damals hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius eine mögliche Reaktivierung der Wehrpflicht öffentlich zur Diskussion gestellt – als Reaktion auf die veränderte Sicherheitslage und den anhaltenden Krieg in der Ukraine.
Das Vier-Stufen-Modell
Aktuell haben die Regierungsparteien SPD und CDU/CSU einen Kompromiss zum Wehrdienst ausgehandelt: das sogenannte Vier-Stufen-Modell. Es soll den Weg zu einer möglichen Reaktivierung der Wehrpflicht schrittweise regeln. Zunächst bleibt der Dienst freiwillig: Alle 18-Jährigen werden angeschrieben und müssen lediglich angeben, ob sie grundsätzlich Interesse am Wehrdienst haben. Nur wer sich positiv zurückmeldet, kann gemustert und eingezogen werden.
Sollte die Bundeswehr ihre Personalziele durch diese Freiwilligen aber nicht erreichen, sieht die zweite Stufe verpflichtende Musterungen vor. Geeignete Bewerber und Bewerberinnen würden anschließend gezielt angesprochen, um sie zu einem freiwilligen Dienst zu bewegen. Bleibt auch das ohne Erfolg, greift die sogenannte Bedarfswehrpflicht: Per Zufallsauswahl könnten dann junge Menschen zum Dienst einberufen werden. Aktiviert werden dürfte diese Stufe allerdings nur durch einen Beschluss des Bundestags. Im Verteidigungs- oder Spannungsfall schließlich soll in der vierten Stufe wieder eine allgemeine Wehrpflicht gelten – zumindest für junge Männer.
Was strittig ist
Besonders umstritten ist zurzeit die dritte Stufe. Denn dabei soll das Los entscheiden, wer gemustert und eingezogen wird und wer nicht. Das jedoch verstößt nach Ansicht einiger Juristen gegen die im Grundgesetz verankerte Wehrgerechtigkeit. Nach dieser sollen die Lasten der Landesverteidigung von allen Männern gleichermaßen getragen werden müssen. Einige Rechtsexperten zufolge könnte eine Klagewelle drohen, weil Betroffene nicht einsehen, warum sie zu einem Jahr Dienst an der Waffe verpflichtet werden, während ihre Altersgenossen einen Job oder ein Studium beginnen oder nach ihrem Schulabschluss im Ausland wertvolle Erfahrungen sammeln können.
Befürworter des Losverfahren argumentieren hingegen, dass die Auswahl damit zumindest ohne Ansehen der Person erfolgt. Ob jemand reich oder arm ist, zur Oberschicht gehört oder nicht spielt demnach keine Rolle. Das mache dieses Auswahlverfahren fair. Zudem haben auch die Ausgelosten immer die Option, den Wehrdienst zu verweigern, beispielweise aus Gewissensgründen.
Tatsächlich gibt es ein solches Losverfahren in Europa bereits – zumindest theoretisch. Denn in Dänemark gibt es zwar eine Wehrpflicht, bisher reichen aber die freiwilligen Meldungen aus. Sollte das jedoch in Zukunft mal nicht der Fall sein, ist auch dort ein Losverfahren vorgesehen.
Ist die Wehrpflicht überhaupt nötig?
Derzeit umfasst die Bundeswehr rund 182.000 Personen. Um ihre NATO-Verpflichtungen zu erfüllen, soll die Truppe aber auf etwa 260.000 Soldatinnen und Soldaten erweitern. Peter Wetzels, Kriminologe an der Universität Hamburg, ist der Ansicht, dass dafür rein rechnerisch genügend Freiwillige gewonnen werden könnten. Selbst wenn man berücksichtigt, dass etwa die Hälfte untauglich sein könnte, ließen sich seiner Schätzung nach mindestens 175.000 junge Männer und 70.000 Frauen im Alter von 18 bis 29 Jahren für einen freiwilligen Dienst rekrutieren. „Zumindest empirisch besteht daher keine Notwendigkeit zur Wiedereinführung einer Wehrpflicht“, so Wetzels.
Basis dieser Schätzung ist eine aktuelle, repräsentative Studie der Universität Hamburg, bei der 2279 Personen im Alter von 18 bis 70 Jahren zur Wehrpflicht und ihrer Verteidigungsbereitschaft befragt wurden. Das Ergebnis zeigt bei den 18- bis 29-Jährigen eine gewisse Bereitschaft zum Wehrdienst: 19 Prozent würden freiwillig eine sechsmonatige Grundausbildung leisten, rund 30 Prozent wären bereit, Deutschland im Kriegsfall zu verteidigen. Bei jungen Männern, die noch keinen Wehrdienst absolviert haben, gilt dies für 14 Prozent in beiden Bereichen, bei jungen Frauen für sechs Prozent.
Was sagt die Bevölkerung zur Wehrpflicht?
Die internationale Lage wird von den Menschen in Deutschland als zunehmend unsicher wahrgenommen. Viele befürworten deshalb eine stärkere militärische Verteidigungsfähigkeit Deutschlands. Eine aktuelle Erhebung der Universität Bielefeld zeigt, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung einen russischen Angriff auf NATO-Staaten für möglich hält und eine Mehrheit zusätzliche Mittel und Personal für die Bundeswehr unterstützt.
Bei der Frage der Wehrpflicht zeigen sich dagegen klare Unterschiede zwischen den Generationen. Während ältere Befragte eher für eine allgemeine Pflicht sind, bleibt unter den Jüngeren die Zustimmung deutlich geringer. Insgesamt zeigt sich: Unterstützung für eine stärkere Verteidigungsfähigkeit ist vorhanden, die Debatte über verpflichtenden Dienst hingegen bleibt hingegen kontrovers.