Die Bundesregierung will den Zuzug nach Deutschland drastisch begrenzen. Die Linken-Politikerin Clara Bünger hält das für den falschen Ansatz: Von einer Massenmigration könne aktuell keine Rede sein. Und: Es sei nicht Aufgabe der Politik, Menschen gegeneinander auszuspielen.
Es war eines der bestimmenden Themen im Wahlkampf 2025: Asyl. Und auch danach bleiben Flucht und Migration in der Debatte präsent. Bundesinnenminister
Im Innenausschuss des Bundestags wird derweil über den Gesetzentwurf zur Übersetzung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in nationales Recht verhandelt. Wenn es nach Linken-Politikerin Clara Bünger geht, soll sich daran noch einiges verändern, bevor es zur Abstimmung kommt.
Frau Bünger, kämpft die Linke mit ihrer Asylpolitik gegen Windmühlen?
Clara Bünger: Nein. Wir kämpfen nicht gegen Windmühlen, sondern gegen Pappkameraden, die von rechts aufgebaut werden. Die Asylzahlen sind im vergangenen Jahr massiv gesunken, trotzdem wird so getan, als würde gerade eine Welle der Massenmigration über uns hereinbrechen. Wir kämpfen also gegen eine Inszenierung, die von rechts gelenkt wird und die mit der Realität nichts zu tun hat.
Umfragen legen nahe, dass für viele Menschen Migration das bestimmende Thema ist.
Ich glaube, für die meisten Menschen sind Anliegen wie zu hohe Preise, ein guter Kita-Platz für das Kind oder die Sicherheit der eigenen Rente deutlich wichtiger als die Zahl der Migrantinnen in Deutschland. Nur wird oft das Bild vermittelt, Migration wäre der Ursprung all dieser Sorgen. Um das zu verstehen, muss man etwas weiter ausholen: Die AfD – aber auch ihr politisches Vorfeld in der Neuen Rechten – arbeiten seit über einem Jahrzehnt daran, dass Migration in der Gesellschaft als Gefahr wahrgenommen wird. Sie hat es sogar geschafft, die soziale Frage dahingehend umzudeuten.
Was meinen Sie damit?
Die AfD suggeriert: Die soziale Frage ist keine zwischen oben und unten, zwischen arm und reich, sondern zwischen innen und außen. Und sie arbeitet immer wieder mit Einzelfällen, die den Menschen Angst machen sollen. Es würden nur "Messermänner" und "Sozialtouristen" nach Deutschland kommen. Diese falschen Erzählungen werden in der Berichterstattung übernommen und am Ende steht das Narrativ, dass Migration eine Gefahr ist, die man abwehren müsse. Die Regierungsparteien haben das zugelassen, mit ihrer Politik sogar selbst vorangetrieben. Die Asylrechtsverschärfungen und GEAS – all das hat die Ampel zu verantworten.
"Abschiebungen lösen keine Probleme, die wir in unserer Gesellschaft haben."
Schon zu Ampelzeiten im vergangenen Jahr wollte die Mehrheit der Menschen eine andere Geflüchtetenpolitik. Große Teile der Bevölkerung stimmen laut Politbarometer Bundeskanzler
Vorweg: Die Befragten haben zugestimmt, dass es ein Problem mit Menschen gebe, die keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, nicht arbeiten und straffällig sind. Merz aber hat gesagt, das "Stadtbild" sei das Problem. Damit waren offenkundig Äußerlichkeiten gemeint, und daran lässt sich kein Aufenthaltsstatus und auch keine Straffälligkeit festmachen. Wir sehen hier ein bekanntes Muster.
Und zwar?
Statt die Verantwortung für die eigene gescheiterte Politik zu übernehmen, schiebt die Regierung die Schuld den Geflüchteten zu. Dem müssen wir klar widersprechen: Nicht Menschen auf der Flucht sind das Problem, sondern politische Entscheidungen, die die öffentliche Daseinsvorsorge und den sozialen Zusammenhalt schwächen. Wir müssen Menschen ermutigen, für ihre eigenen Belange einzustehen, statt sich gegeneinander ausspielen zu lassen.
Wie das?
Dazu müssen wir nicht weit gehen, sondern uns die Frage stellen: Was sind die konkreten Probleme vor Ort? Genau das machen wir mit unseren Haustürgesprächen und Sozialsprechstunden. Damit bieten wir ganz konkrete Unterstützungsangebote. Dabei kommen Menschen, mit denen ich spreche, schnell weg vom Thema Asyl und hin zu falschen Nebenkostenabrechnungen, illegalen Mieterhöhungen, kaputtgesparten Schulen und Bildungseinrichtungen.
Intensiv- und Straftäter gibt es unter den Asylsuchenden. Menschen fühlen sich deshalb unsicher. Was ist Ihre Antwort auf dieses Problem?
Ich bin Juristin. Was man mit Intensiv- und Straftätern macht, ist völlig klar: Man führt ordentliche Strafverfahren. Wir haben ein funktionierendes Justizsystem. Unabhängig davon bin ich davon überzeugt, dass Menschen, die eine Straftat begangen haben – egal welcher Herkunft und Staatsangehörigkeit –, nach Verbüßung der Strafe das Recht auf Resozialisierung haben. Aber das oberste Ziel sollte aus meiner Sicht sein, dass solche Straftaten gar nicht erst passieren. Das zweite Ziel muss sein, dass sie sich nicht wiederholen. Hier müssen wir stark auf Prävention setzen.
"Deutschland als größtes Mitgliedsland der EU muss auch die größte Verantwortung tragen."
Die Antwort der Regierung lautet: Abschieben.
Abschiebungen lösen keine Probleme, die wir in unserer Gesellschaft haben. Ich werbe dafür, dass Migration als normales Politikfeld behandelt wird. Dafür sollte die Bundesregierung wissenschaftsbasierte Politik betreiben, anstatt Rechtspopulisten hinterherzulaufen. Wir müssen anerkennen, dass Deutschland eine Migrationsgesellschaft ist. Diese Grundannahme sollte Ausgangspunkt für unser politischen Handeln sein.
Sie sind erklärte Gegnerin der GEAS-Reform. Beschlossen wurde diese noch zu Ampelzeiten – und damit von Grünen und SPD, also zwei Parteien, die ebenfalls links der Mitte stehen.
Ich war ehrlicherweise schwer enttäuscht von den Grünen. Seit ich in den Bundestag gekommen bin, habe ich dafür geworben, dass wir uns im Parlament mit der GEAS-Reform beschäftigen. Ich wollte, dass Deutschland einen menschenrechtsbasierten Vorschlag in das Verfahren einbringt. SPD und Grüne wollten keine frühe Debatte darüber, dabei wäre das der richtige Weg gewesen.
Wie haben Sie sich das vorgestellt?
Indem sowohl die Belange der schutzsuchenden Menschen als auch die Kapazitäten der Staaten in den Mittelpunkt gerückt werden. Wir brauchen keine Grenzverfahren mit dazugehöriger Haft, sondern eine Registrierung und ein faires Matching-System. Dass zum Beispiel viele Schutzsuchende nach Spanien wollen, findet in der Debatte gar nicht statt. Gleichzeitig ist klar, dass Deutschland als größtes Mitgliedsland der EU auch die größte Verantwortung tragen muss.
Wie das GEAS-Anpassungsgesetz in nationales Recht übersetzt werden soll, darüber wird aktuell im Innenausschuss verhandelt. Was kann sich dort noch verändern?
Vieles. Zumindest theoretisch gibt es viel Spielraum, den Deutschland nutzen kann. Stand jetzt wird das EU-Recht mit dem GEAS-Anpassungsgesetz sehr restriktiv ausgelegt. Mit dem aktuellen Vorschlag können fast alle Menschen, auch Kinder, inhaftiert werden, sei es im Grenzverfahren oder in Sekundärmigrationszentren. Da frage ich mich, wo die menschenrechtsbasierte Politik ist.
"Ich schäme mich, dass geflüchtete Menschen in Deutschland als Menschen zweiter Klasse behandelt werden."
Weder die Sekundärmigrationszentren noch die Ankunftszentren an den Außengrenzen sind Gefängnisse.
Nur weil offiziell nicht "Gefängnis" drauf steht, bedeutet das nicht, dass es keine Haft ist. Sowohl die Ankunftszentren als auch die Sekundärmigrationszentren sind eng begrenzte Räume, die die betroffenen Personen in bestimmten Fällen nicht verlassen dürfen. Sie sind dadurch erheblich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt – ein Kernmerkmal von Haft. Unabhängig davon müssen wir uns die Frage stellen, was das alles soll. Für mich ergibt es keinen Sinn, Menschen grundlos zu inhaftieren. Wäre es nicht besser, eine andere Politik zu schaffen?
Was sind Sekundärmigrations- und Ankunftszentren?
- Die Bundesregierung will den Bundesländern die Möglichkeit geben, sogenannte Sekundärmigrationszentren aufzubauen. Dort sollen Menschen untergebracht werden, für deren Asylverfahren eigentlich ein anderes EU-Land zuständig ist. Mit den Ankunftszentren an den EU-Außengrenzen soll das Asylverfahren dorthin verlagert werden. Sprich: Statt Geflüchtete auf die EU-Staaten zu verteilen und dort das Asylverfahren durchzuführen, soll mit der GEAS-Reform direkt an den Außengrenzen der jeweilige Schutzstatus geklärt werden.
Nämlich?
Die Bundesregierung sollte aufhören, von Asylsuchenden als Gefahr zu sprechen, und stattdessen anerkennen, dass es, solange es Kriege und Entrechtung auf der Welt gibt, auch Menschen gibt, die davor fliehen. Sie benötigen Schutz und es geht hierbei um Menschen, denen die gleichen Rechte zustehen wie allen Menschen in Deutschland. Stellen Sie sich vor, Sie wären mit Ihrem Kind auf der Flucht. Würden Sie wollen, dass es auch nur einen Tag in einem solchen Haftlager verbringt? Wir müssen anerkennen, welche Entrechtungen dort passieren und uns darüber klar werden, dass jeder von uns in die Situation geraten könnte, irgendwann fliehen zu müssen. Ich schäme mich, dass geflüchtete Menschen in Deutschland als Menschen zweiter Klasse behandelt werden.
Sie sind also der Überzeugung, wir können es noch schaffen – um es mit den Worten der Alt-Kanzlerin Angela Merkel zu sagen?
Auf jeden Fall. Aber dafür brauchen wir einen Politikwechsel für die Mehrheit der Menschen in Deutschland. Das heißt, wir müssen aufhören, nur über Steuergeschenke für Superreiche und die Frage zu diskutieren, wie wir Leute abschieben. Stattdessen brauchen wir eine Politik, die das Leben der Mehrheit der Menschen in Deutschland verbessert. Das würde auch zu einer größeren Resilienz in unserer Gesellschaft gegenüber rechter Politik beitragen.
"Wir sind die Opposition, so kann die Regierung nicht mit uns umgehen."
Neben Ihrer Mitgliedschaft im Innenausschuss haben Sie sich auch für das Parlamentarische Kontrollgremium zur Wahl gestellt, sind aber gescheitert. Vermutlich an den fehlenden Stimmen der Union.
Ich habe mich vor der Wahl über viel Zuspruch aus fast allen Fraktionen außer der AfD gefreut. In diesem Gremium würde ich nicht die Position der Linken-Politikerin einnehmen, sondern die des Parlamentes. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, denn das Kontrollgremium überwacht in Stellvertretung für das Parlament die Geheimdienste. Diese Verantwortung ist zu wichtig, um sie parteitaktischen Manövern zu opfern. Die Union ist aber offenbar damit beschäftigt, die Brandmauer nach links hochzuziehen, statt die demokratische Kontrolle der Geheimdienste zu stärken.
Wie geht es nun weiter?
Wir werden uns genau überlegen, wie wir jetzt vorgehen. Am Ende geht es darum, parlamentarische Kontrolle auszuüben. Wir sind die Opposition, so kann die Regierung nicht mit uns umgehen.
Über die Gesprächspartnerin
- Clara Bünger wuchs in Sachsen auf und ist nach eigenen Angaben in einem politischen Umfeld groß geworden. Bünger ist Juristin und arbeitete nach ihrem Studium in Israel und Singapur, bevor sie auf der griechischen Insel Chios Rechtshilfe für Geflüchtete leistete. Seit 2022 sitzt die Dresdnerin für die Linke im Bundestag und im Innenausschuss.