Von Rechts wegen Whistleblowing ist Meinungsfreiheit
Reden oder schweigen? Brigitte Heinisch wollte die Missstände im Pflegeheim der Firma Vivantes nicht länger ignorieren und informierte die Heimleitung: Das Personal sei überlastet und könne die Bewohner nicht ordentlich versorgen. Außerdem würden Pflegeleistungen nicht korrekt dokumentiert.
Die Geschäftsleitung wies alle Anschuldigungen zurück. Schließlich erstattete Heinisch Anzeige wegen Betrugs und machte diese über ein Flugblatt öffentlich. Das Heim, so Heinisch, leiste nicht die in der Werbung versprochene hochwertige Pflege. Damit war die Altenpflegerin ihren Job los - Vivantes nutzte den Anlass, um der Mitarbeiterin fristlos zu kündigen.
Knapp sieben Jahre liegt diese Geschichte zurück, und seitdem zieht sich der Rechtsstreit. Die Altenpflegerin klagte gegen die fristlose Kündigung, verlor aber vor dem Landesarbeitsgericht Berlin. Die Richter waren der Meinung, dass die Mitarbeiterin durch die Anzeige grob gegen ihre Loyalitätspflichten verstoßen habe. Auch die Verfassungsbeschwerde der Mitarbeiterin blieb erfolglos. Aber sie gab nicht auf.
Strafanzeige gegen den Arbeitgeber
Nun hat sich das Blatt gewendet: Frau Heinisch bekam vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte recht. Die Straßburger Richter sehen die Strafanzeige gegen den eigenen Arbeitgeber (Whistleblowing) als berechtigt an. Es bestehe im geschilderten Fall ein öffentliches Interesse an der Offenlegung solcher Pflegemissstände. Die fristlose Kündigung habe das Recht der Mitarbeiterin auf Meinungsfreiheit und damit den Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskovention verletzt.
Das Recht eines Unternehmens, seinen Ruf und seine Geschäftsinteressen zu schützen, müsse hier zurücktreten. Wäre die Kündigung rechtmäßig gewesen, so die Richter, hätte das auf andere Mitarbeiter der Firma eine abschreckende Wirkung gehabt, Kritik zu äußern. Und der deutsche Staat, dessen Gerichte falsch geurteilt hatten, wurde vom Gerichtshof verurteilt, 15.000 Euro an die Mitarbeiterin zu zahlen.
Verpfeifen als Unternehmenshygiene
Die Entscheidung aus Straßburg ist für deutsche Unternehmen und ihre Mitarbeiter von erheblicher Bedeutung. Das Urteil macht es Arbeitgebern künftig sehr viel schwerer, Angestellte zu kündigen, die öffentlich anprangern, was am Arbeitsplatz falsch läuft. Arbeitsrichter werden in solchen Whistleblowing-Fällen künftig das öffentliche Interesse an der Aufdeckung von Missständen berücksichtigen müssen.
Ein Freibrief für Mitarbeiter, freimütig Anzeigen gegen den eigenen Arbeitgeber zu erstatten, ist das Urteil allerdings nicht. Kritische Mitarbeiter sollten im Regelfall zunächst eine innerbetriebliche Lösung versuchen - auch wenn dies nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts nicht immer vom Mitarbeiter verlangt werden kann (Urteil vom 3. 7. 2003, Aktenzeichen 2 AZR 235/02).
Tatsächlich kann Whistleblowing auch im Interesse des Unternehmens sein, um Probleme aufzudecken - wie etwa bei Ergo, Lidl oder der Deutschen Bahn, um einige prominente Fälle des Verpfeifens zu benennen. Einige Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern mittlerweile eigene Whistleblowing-Hotlines an. Dort können sie anonym auf Probleme im Unternehmen hinweisen. Bei der Post gibt es neuerdings auch eine Whistleblowing-Plattform, die Website "Post-Courage".
Hinweisgeber müssen geschützt werden
Bislang war das Nutzen solcher Firmenangebote für Mitarbeiter allerdings stets mit Risiken verbunden. Bei einer strafrechtlichen Ermittlung wird regelmäßig die Identität des Anzeigers offengelegt - und der Firma so die Handhabe für arbeitsrechtliche Konsequenzen gegeben. Das Urteil aus Straßburg gibt Anlass zur Hoffnung, dass dies künftig für Arbeitnehmer weniger riskant ist - mehr aber auch nicht.
Es bleibt Unsicherheit - bei den Mitarbeitern und bei den Unternehmen. Nach den großen Lebensmittelskandalen dieses Jahres mit Dioxin und Ehec forderten einige Politiker ein Gesetz über das Whistleblowing. Die Initiative scheiterte am Widerstand der CDU/CSU.
Nicht nur für Arbeitnehmer, sondern auch für Unternehmen wäre es gut, Klarheit zu haben, wann und unter welchen Voraussetzungen ein Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber verpfeifen darf. Insbesondere Gesetzesverstöße lassen sich ja durch interne Hinweise an den Arbeitgeber verhindern, so können Risiken und Schäden für den Betrieb abgewendet werden - wie bei Lidl oder der Bahn geschehen.
Wo dies nicht gelingt, müssen Hinweisgeber durch klare und eindeutige Regelungen geschützt werden, fordert die SPD-Bundestagsfraktion. Sie hat dazu einen neuen Gesetzentwurf angekündigt.