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Familienroman Dies ist nicht das Paradies

Ein Rabbi wird während der Meditation eingefroren und erwacht ein Jahrhundert später in der Gefriertruhe einer Familie. Steve Sterns Geschichte könnte phantastischer kaum sein und ist dabei so souverän erzählt, als sei sie die selbstverständlichste der Welt.
Autor Steve Stern: Phantastische charmante Familiengeschichte

Autor Steve Stern: Phantastische charmante Familiengeschichte

Foto: Emma Dodge Hanson Photography
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Nichts gegen das echte Leben - wahrscheinlich ging jedem menschlichen Körper, der in einer Gefriertruhe liegt, eine Familientragödie voraus. Aber es ist doch unwahrscheinlich, dass sie phantastischer, bitterer oder grandioser sein könnte als jene, die dazu führt, dass der übergewichtige Teenager Bernie Karp in Steve Sterns neuem Roman eines Tages einen gefrorenen Rabbi unter den Hacksteaks in der Tiefkühltruhe seiner Eltern findet.

Bernie, dessen Gemütsregungen normalerweise nur von Essen, Fernsehen und Selbstbefriedigung ausgelöst werden, erschrickt angesichts des alten Mannes im Eisblock für seine Verhältnisse sehr heftig. Aber da in der Familie Karp nicht viel gesprochen wird (außer über die Geschäftssorgen des Vaters), ist auch der ungewöhnliche Fund mit einem Satz wieder vom Abendbrottisch. Es sei eben eine Familientradition, sagt der Vater.

Aber was für eine. In Zeitsprüngen und Rückblicken erzählt Steve Stern in "Der gefrorene Rabbi" eine Familiengeschichte, die phantastischer und charmanter kaum sein könnte. Trotz seiner überdrehten Geschichte ist das Buch an keiner Stelle albern und niemals unplausibel. Stern schafft es, so selbstverständlich über den gefrorenen Rabbi zu schreiben wie über das amerikanische Fernsehprogramm. Die Zurückhaltung und Lakonie seiner Sprache spiegelt eine Familie, die es niemals gelernt hat, sich über etwas zu wundern oder Neugierde zu entwickeln - und die den Rabbi im Eisblock so selbstverständlich hinnimmt wie all die anderen fragwürdigen Umstände, die das Leben bisweilen bereit hält.

Zu neuem Leben erwacht

Das wäre vermutlich für immer so geblieben, hätte es nicht eines Tages im Haus der Familie Karp einen Stromausfall gegeben, in dessen Folge der Rabbi der Gefriertruhe entsteigt und den Keller der Familie Karp in einem ersten Impuls für das Paradies hält (und den dicken Bernie für einen Engel). Aber nicht nur der Rabbi erwacht zu neuem Leben, sondern auch Bernie: Er versteckt den Rabbi vor den Eltern, füttert ihn mit den Resten vom Abendbrot, klaut ihm Kleidung aus dem Schrank des Vaters, lernt das Yiddisch, das der Rabbi spricht, und interessiert sich zum ersten Mal für die Religion seiner Familie und die Geschichte des Judentums.

Ohne es zu wissen, reiht Bernie sich damit in eine lange Familientradition: Immer schon waren es die scheinbaren Taugenichtse der Familie, die in der Pflege des gefrorenen Rabbis eine Aufgabe fanden. Ein Jahrhundert zuvor hatte der Rabbi während der Meditation an einem Seeufer nicht rechtzeitig bemerkt, wie der Wasserpegel stieg und die Temperatur sank, bis sein Körper in einem Eisblock steckte. Zunächst wird er daraufhin im Eishaus eines polnischen Dorfes verwahrt, bis dem Besitzer des Eishauses bei einem Pogrom der Kopf eingeschlagen wird, und dessen Sohn (und Bernies Urgroßvater) mit dem Rabbi im Gepäck nach Lodz emigriert. Unterwegs tauscht er sein altes Pferd gegen eine zänkische Frau. Später ist es die gemeinsame Tochter, die nach einer Entführung ins Bordell, zahlreichen Vergewaltigungen und dem Tod der Eltern die Tradition des Vaters fortsetzt und mit dem gefrorenen Rabbi nach Amerika reist. Eine Chronik hält die Reise des Rabbis fest und nebenbei ein Jahrhundert jüdischen Leids, das in der Tiefkühltruhe der Familie Karp vorerst zu seinem Ende kommt.

Versumpft vor MTV

Nach all der Vertreibung und Verzweiflung müsste das geruhsame und ereignislose Leben der Karps in Memphis tatsächlich eine Art Erlösung darstellen. Doch entgegen aller Vernunft leiden sie nicht weniger an ihrem Leben als ihre Ahnen.

An keiner Stelle vermittelt einem der Roman das Gefühl, dass die Familie angekommen sein könnte. Sie ist nicht zur Ruhe gekommen, sie ist nicht versöhnt mit der eigenen Geschichte, sie ist versumpft. Sie leidet an MTV und an Antriebslosigkeit, an der Stumpfsinnigkeit des Daseins und daran, dass ihr irgendwann ihre Wurzeln abhanden gekommen sind. Nur bewusst ist das den Familienmitgliedern nicht.

Als Leser wird einem dieses Unglück umso bewusster, anders ist das Unbehagen nicht zu erklären, das einen überkommt, als der Rabbi für einen Moment glaubt, im Paradies aufgetaut worden zu sein.

"Dies ist nicht das Paradies!", möchte man ihn warnen. Aber da ist es schon zu spät. Mit dem gleichen Eifer, mit dem sich Bernie für das Judentum zu interessieren beginnt, verfällt der Rabbi dem Fernsehen, Tantra und Viagra - und verscherbelt seine Weisheit in einer Billig-Biografie.

Nichts gegen gute Literatur. Bloß manchmal ist sie ganz schön deprimierend.