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Fotostrecke

Erinnerungsstücke: Nachlass einer verwüsteten Stadt

Foto: Sergey Ponomarev/ AP

Japans Katastrophenzone Was vom Leben übrig blieb

Der Schutt wird nicht einfach nur weggeräumt, er wird penibel durchkämmt: In Japans Krisengebiet ziehen Helfer Tausende Fotos, Alben und Akten aus den Trümmern, in Turnhallen werden die Erinnerungsstücke gesäubert und ausgestellt. Für die Überlebenden haben sie unschätzbaren Wert.
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Natori - Ein junges Mädchen posiert lachend auf einem Festival, ein Paar schaut ernst in die Kamera, eine brav und touristisch wirkende Menschengruppe tummelt sich vor den Universal Studios in Los Angeles. Jedes dieser Fotos zeigt ein kleines Fetzchen gelebtes Leben - Erinnerungen, die Identität und Geborgenheit bedeuten.

In Japans Tsunami-Gebiet versucht man, so viele dieser Dokumente wie nur möglich für die Überlebenden zu erhalten. Im verwüsteten Natori in der Präfektur Miyagi gehen ehemalige Bewohner langsam durch die schlammbedeckte Turnhalle einer Grundschulruine. Sie blicken auf unzählige Fotos, die an Wänden kleben oder an Schnüren hängen - der zusammengewürfelte Nachlass einer Stadt, die komplett ausgelöscht wurde.

Mehr als einen Monat nach der verheerenden Erdbeben- und Tsunamikatastrophe vom 11. März kommen tagtäglich noch immer kistenweise schlammverkrustete und zerrissene Fotoalben in der Turnhalle an. Soldaten, die in der Nähe mit Aufräumarbeiten beschäftigt sind, bringen ihre Fundstücke dorthin. Oder Einheimische, die durch die Straßen gehen und versuchen, ihre alte Nachbarschaft wiederzufinden, die dem Erdboden gleichgemacht wurde. Sie suchen nach Verbindungen zu ihrem alten Leben. Die Turnhalle ist zu einer Stätte kollektiver Erinnerung geworden.

Kartons mit Fotoalben stapeln sich

"Es ist ein Weg für Menschen, ihre Erinnerungen zu bewahren", sagt Ami Kisara. Die 24-Jährige hat ihr Grundschul-Jahrbuch wiederentdeckt. Zusammen mit ihrer Mutter war sie in die Halle gekommen, um einige Fotos abzugeben, die sie in den Trümmern gefunden hatte. Kisara erzählt, dass das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, vom Tsunami verwüstet und dass ihr Vater vom Wasser weggerissen wurde.

Zunächst wurden die Fotos einfach an der Straße gestapelt, wo man sie fand. Aber dann hätten Soldaten damit begonnen, die Bilder in die Turnhalle zu bringen, sagt Saori Takezawa: "Hier sind sie geschützt vor dem Regen." Die 35-Jährige leitet ein Team aus Freiwilligen, das die Fotos säubert und in der Turnhalle aufhängt.

Der Parkettboden, auf dem sie steht, ist mit einer dicken Schmutzschicht überzogen. Neben Takezawa stapeln sich Kartons mit Bildern und Fotoalben, die noch vom Dreck befreit werden müssen. Andere Erinnerungsstücke, die vorbeigebracht werden, sortiert Takezawa thematisch - die Abiturzeugnisse sind bereits zu einem kleinen Berg angewachsen.

Bargeld, Tresore, Wertgegenstände

Bei den Aufräumarbeiten in den Trümmern werden neben persönlichen Erinnerungsstücken auch hohe Geldbeträge und Wertgegenstände entdeckt. Rettungskräfte und Überlebende würden täglich Bargeld, Tresore und Vermögenswerte bei örtlichen Polizeistellen abgeben, sagte ein Sprecher der Polizei in der Präfektur Miyagi, die besonders stark von der Katastrophe getroffen wurde. Es sei schwierig, den Gesamtbetrag zu schätzen. Allein an Bargeld wurden den Behörden in den Präfekturen Miyagi und Iwate laut der Nachrichtenagentur Kyodo mehrere hunderttausend Euro übergeben.

Nach japanischem Recht dürfen Finder die Beträge behalten, wenn sich der Eigentümer binnen drei Monaten nicht meldet. Der Leiter des japanischen Instituts zur Katastrophenprävention, Takehiko Yamamura, forderte von der Regierung, diesen Zeitraum für die Region Tohoku zu verlängern, zu der Miyagi und Iwate gehören. Zudem solle die Polizei die Erlaubnis bekommen, gefundene Tresore zu öffnen, um die Besitzer zu identifizieren.

Laut der Polizei in Miyagi konnten bisher nur rund zehn Prozent der Eigentümer gefundener Geldbeträge und Wertsachen ausfindig gemacht werden. "Ohne Dokumente ist es unmöglich, sie zu identifizieren", sagte ein Polizist. Überlebende fordern daher, das Geld für den Wiederaufbau der verwüsteten Regionen einzusetzen.

Japaner gelten als besonders gewissenhaft bei der Rückgabe verlorener Portemonnaies oder Taschen. Nach der Erdbebenkatastrophe wurden aber auch vereinzelt Fälle von Plünderungen in verwüsteten Gebieten gemeldet, die von ihren Bewohnern verlassen worden waren.

Leichen in verstrahlter Zone geborgen

Japanische Einsatzkräfte durchsuchten am Donnerstag erstmals die verstrahlte Zone im Umkreis von zehn Kilometern um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima nach Tsunami-Opfern. Bis zum Abend fanden sie nach Angaben der Polizei zehn Leichen, am Freitag soll die Suche weitergehen. In Schutzanzügen, Stiefeln und Schutzmasken arbeiteten sich mehr als 300 Polizisten durch das radioaktiv belastete Gebiet, das etwa so groß ist wie Frankfurt am Main.

Die Suche nach den Opfern sei mühsam, sagte ein Polizeisprecher. Einige Tote hätten noch in ihren Autos gesessen, die meisten aber seien unter Trümmern begraben. Alle Leichen wurden demnach auf ihre radioaktive Strahlung untersucht. Ist diese zu hoch, müssten sie vor ihrer Aufbahrung sorgfältig gewaschen werden.

Laut der Zeitung "Asahi Shimbun" rechnen die Behörden mit rund tausend Toten in der Zone. Insgesamt sind bislang knapp 13.500 Tote gefunden worden, mehr als 14.700 Menschen gelten noch als vermisst. Für Hoffnung unter den Japanern sorgte der erste Besuch des Kaiserpaars in der Katastrophenregion.

wit/AP/AFP