EU-Vertrag Der Coup von Lissabon
Lissabon - Alle hatten mit einem typischen EU-Gipfel gerechnet. Lange Sitzungen, Krisen-Pausen, Einzelgespräche - und bestenfalls eine Einigung Freitagnacht in aller letzter Minute. Doch in Lissabon war alles anders. Nach für EU-Verhältnisse moderaten acht Stunden Verhandlungen war die Überraschung um 1 Uhr in der Frühe perfekt: Schon am ersten Gipfeltag einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf die Reform der Europäischen Union. Danach präsentierten sich die Europäer in gelöster Stimmung: Schultern klopfen, Lächeln, Küsschen austauschen.
In Lissabon wurde endlich der Streit beigelegt, der die EU seit zwei Jahren fast völlig politisch gelähmt hatte. Die portugiesische Hauptstadt spielt von nun an als Namenspatin eines europäischen Vertrages in einer Liga mit Rom, Maastricht, Nizza und Amsterdam.
Der Vertrag von Lissabon wird offiziell beim nächsten Treffen des Europäischen Rates am 13. Dezember unterschrieben, anschließend in den Mitgliedstaaten ratifiziert und soll am 1. Januar 2009 in Kraft treten. Er ersetzt die europäische Verfassung, der Franzosen und Niederländer bei Volksabstimmungen 2005 eine Absage erteilt hatten.
Ende der Stagnation
Die Beschlüsse ebnen den Weg für weitreichende Reformen ab 2009. Sie sollen dazu führen, dass die EU besser - und vor allem auch einheitlicher - auf Herausforderungen wie Terrorismus, wirtschaftliche Konkurrenz und die sozialen Nöte der Menschen in den Mitgliedstaaten reagieren kann. Kurzum: Der Vertrag von Lissabon könnte dafür sorgen, dass sich die EU nach Jahren der Stagnation und Selbstbezogenheit wieder mit dem beschäftigt, wofür sie einst gegründet worden ist: der Politik für die Menschen in Europa.
In den vergangenen zwei Jahren haben die Staats- und Regierungschefs viel Energie darauf verwendet, die Strukturen der europäischen Institutionen zu verhandeln. Statt über mathematische Formeln, Sitzverteilungen und die Schreibweise von Wörtern zu streiten, kann sich die EU nun den politischen Herausforderungen widmen, statt um sich selbst zu kreisen.
Dazu ist es höchste Zeit, will die EU nicht weiter Vertrauen verspielen. Entsprechend erleichtert, wenn auch angesichts der zähen Verhandlungen und der abgerungenen Zugeständnisse wenig euphorisch, gaben sich die Politiker nach ihrem Treffen. Bundeskanzlerin Angela Merkel wertete die Einigung als großen Erfolg - auch der deutschen Ratspräsidentschaft. Europa werde mit dem Reformvertrag besser funktionieren, sagte sie. Überschäumende Freude konnte angesichts des zähen Feilschens einiger Mitglieder allerdings nicht aufkommen. "Dass es manchmal mühselig und enttäuschend war, will ich gar nicht verhehlen", sagte Merkel.
Polen hat "alles bekommen, was es wollte"
Und prompt reihte sich auch Polens Präsident Lech Kaczynski nicht in die Reihe von EU-Ratspräsident José Socrates, Gordon Brown, Jean Claude Juncker und Frank-Walter Steinmeier ein, die alle die positiven Folgen der Einigung für Europa betonten. Kaczynski sah allein die positiven Folgen für sein Heimatland: Polen habe "alles bekommen, was es wollte", kommentierte er das Treffen mit seinen Amtskollegen.
Schließlich wird am Sonntag in Polen gewählt, die polnische Regierung versuchte, das Gesicht in den Verhandlungen zu wahren und zugleich mit einem Erfolg in der Tasche nach Hause zu reisen.
Ermöglicht hat diesen Erfolg eine juristisch komplizierte Vereinbarung: Zwar hat Polen seine Forderung nach mehr Einfluss im Ministerrat durchgesetzt, allerdings wird die sogenannte Ioannina-Klausel nur in eine Erklärung zum Vertrag aufgenommen und nicht, wie von Warschau ursprünglich gefordert, Bestandteil des Vertrags. Die Erklärung kann in Zukunft nur durch einen einstimmigen Beschluss geändert werden. Außerdem erhält Polen den festen Posten eines Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof.
Streit um die Sitzverteilung im Parlament
Das größere Problem in den Verhandlungen war laut EU-Kreisen in Lissabon die Forderung Italiens nach mehr Einfluss im Europäischen Parlament. Präsident Prodi bestand darauf, nach der Verkleinerung des Parlaments statt 72 künftig 73 Abgeordnete entsenden zu können - und mit Großbritannien gleichzuziehen. Der Vorschlag zur Lösung des Problems wurde schließlich von den Parlamentsvertretern eingebracht.
Um die im Reformvertrag festgeschriebene Obergrenze von 750 Mandaten nicht zu überschreiten, wird sich künftig der Sitzungspräsident nicht an den jeweiligen Abstimmungen beteiligen. Der Reformvertrag muss so nicht umgeschrieben werden, Italien erhält aber dennoch den gewünschten zusätzlichen Sitz.
"Das ist ein typisch europäischer Kompromiss", sagte Jo Leinen, Vorsitzender des Verfassungsausschusses im Europäischen Parlament, unmittelbar nach dem Durchbruch SPIEGEL ONLINE. Die Einigung sei zwar "nicht ganz prinzipientreu", diene aber der Überwindung einer Blockade. "Der Kompromiss ist nicht sonderlich schädlich für das Parlament, schafft aber auch keine absolute Klarheit." Vielmehr sei durch das Entgegenkommen ein Präzedenzfall geschaffen worden, den andere Mitglieder in Zukunft ausnutzen könnten.
Bulgarien darf den Euro "Evro" nennen
An der Abstimmungspraxis des Europäischen Parlaments wird die Einigung de facto nicht viel ändern: In vielen Fällen beteiligt sich der jeweilige Sitzungspräsident nicht an den Abstimmungen, weil er mit deren Organisation befasst ist. Das Prinzip ist indes keine Erfindung der EU, sondern wird vom britischen House of Commons übernommen.
Auf ausdrücklichen Wunsch Polens wird sich das Parlament aber noch einmal mit der Sitzverteilung und der künftigen Stimmgewichtung befassen. Einen Einfluss auf den Reformvertrag haben diese Ausführungen allerdings nicht mehr.
Einigung erzielten die Staats- und Regierungschefs auch in Bezug auf das Ansinnen Bulgariens, den Euro gemäß der kyrillischen Schreibweise künftig als "Evro" bezeichnen zu dürfen. Dabei ist nicht einmal klar, wann Bulgarien den Euro einführen wird.