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Karriere Ost Der Hartz-IV-Bürgermeister

Das Mittagessen liefert ihm der Sozialdienst, Zigaretten holt er sich in Polen: Ralf Theuer, Bürgermeister im brandenburgischen Brieskow-Finkenheerd, bezieht Hartz IV. "So lässt es sich leben" - findet er.
Von Nico Wingert
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Brieskow-Finkenheerd – Sein Mittagessen lässt sich Ralf Theuer von der Arbeiterwohlfahrt in Thermokübeln direkt vor die Haustür ankarren – für 3,50 Euro pro Portion. Ein Service, den auch seine arbeitslose Ehefrau Karola, 49, gern mit nutzt. Das Wahlessen ist billig und schmeckt: Gulasch, Kartoffeln und Sauerkraut gab es gestern. Selbst an den Zigaretten spart er: Dafür fährt der Bürgermeister eine Viertelstunde mit dem Auto nach Frankfurt an der Oder. Weitere acht Minuten Fußweg über die deutsch-polnische Grenze sind nötig, um seine bevorzugten Zigaretten der Marke "Ronson" zu kaufen. "So lässt es sich leben", sagt Theuer zufrieden.

Dass er jeden Euro zweimal umdrehen muss – daran hat sich der Bürgermeister längst gewöhnt. So, wie viele andere Menschen in Brieskow-Finkenherd auch. Die Leute dort mögen den hageren Mann, der wahlweise einen dunkelblauen Jogginganzug oder zu große, weite graue Hosen mit rotweißen Stoffturnschuhen trägt. Er ist einer von ihnen, immer auf dem "Dorfboden" geblieben. Von welchem Politiker kann man das schon behaupten?

Theuer jammert nicht. Auch seine Frau bezieht Hartz-IV, 345 Euro. Zwei Töchter leben von Stütze, die beiden wohnen aber nicht mehr im Elternhaus. Die dritte Tochter zog in den Westen und fand einen Job als Kellnerin in München. Derzeit erhält sie Elterngeld. "Wir sind eben eine ganz normale deutsche Familie", sagt Theuer, seit 1998 Bürgermeister. Streng genommen gibt ihm die Statistik Recht: Hartz IV ist im Kreis Oder-Spree schon fast normal, fast zehn Prozent der Menschen dort leben von dem Arbeitslosengeld II, im Bundesdurchschnitt sind es sechs Prozent.

Kein Wallfahrtsort für "Durchgeknallte"

Vor der Wende qualmten noch die Schornsteine der über zehn maroden oder unwirtschaftlichen Betriebe in Brieskow-Finkenheerd. Nur das Betonwerk und ein Möbelwerk waren mit modernsten Maschinen ausgerüstet. Letztere exportierten sogar Kleinmöbel und Schlafzimmer nach Dänemark. Und Theuer, der diplomierte Maschinebauer, arbeitete als ökonomischer Leiter beim Kranbau. Aber das alles ist längst im Nebel der deutsch-deutschen Geschichte verraucht.

"Letzte Ausfahrt vor der Bundesgrenze" mahnt ein großes Schild an der Autostraße Berlin-Warschau, bevor man das knapp 2700 Seelendorf erreicht. Eine Schule gibt es schon seit 2005 nicht mehr, die wenig verbliebenen Kinder werden mit Bussen auswärts in andere Schulen gebracht. Traurige Berühmtheit erlangte Brieskow-Finkenheerd, als auf einem Grundstück die Leichen von neun Babys gefunden wurden. Die Mutter Sabine H. wurde wegen mehrfachen Totschlags verurteilt. Von dieser abscheulichen Tat wollen Theuer und die Dorfbewohner nichts mehr wissen, denn "die Angeklagte" sei doch "nur eine Zugezogene gewesen".

Deshalb beschloss das "Dorfparlament", einer Beerdigung der Babys - die derzeit immer noch in Obduktionssälen liegen - nicht zu zustimmen: Man wolle keinen Wallfahrtsort für "Durchgeknallte" schaffen. Aber vielleicht möchte man sich nicht mehr an das Grauenvolle erinnern, dass sich in unmittelbarer Nachbarschaft abgespielt hat.

Ab und an mal einen Runde am Stammtisch schmeißen

Wichtige Themen werden natürlich zuvor am "Stammtisch" besprochen. Denn Politik in Brieskow-Finkenheerd funktioniert wie überall in der Welt. Die wirklich wichtigen Leute trifft man im Gasthof beim Bier, Beschlüsse werden hier vorab diskutiert.

Rund 800 Euro Aufwandsentschädigung erhält der ehrenamtliche Bürgermeister. Dieses Geld gehöre aber nicht zu seinem Einkommen, erklärt Theuer. Davon kauft er Sprit für seine Überlandfahrten oder einen Blumenstrauss für eine Jubilarin, die er besuchen muss. Den Rest gibt er in der Kneipe aus, "um auch mal eine Runde schmeißen zu können". Alles im Dienste seines Dorfes.

Termine in seiner knapp 14 Quadratmeter großen Amtsstube sind eher selten, denn seine Dörfler rufen ihm schon auf der Straße zu: "Kümmere dich doch mal… ". Das reicht vom Anglerverein bis hin zu Grundstücksfragen. Neben der neuen Sporthalle war die letzte große Investition des Ortes der Einkaufspark.

"Unser Bürgermeister macht und kümmert sich wirklich um uns Dörfler", sagt Elfriede Laufer, 77, über ihren Nachfolger Theuer, der ihr allerdings manchmal "etwas zu lasch" sei. "Wenn er doch nur ein klein wenig mehr Temperament hätte, wäre es noch besser hier", glaubt die Ex-Bürgermeisterin und einstige Genossin der SED, die die Geschicke in Brieskow-Finkenheerd zuvor über 24 Jahre leitete.

Nach der Wende hat Theuer im Auftrag der Gemeinde von 1993 bis 1996 rund 160 Wohnungen am Ortsrand von Brieskow-Finkenheerd abgewickelt. "Ägypten" nennen die Dorfbewohner dieser Häuser der ehemaligen Bergarbeitersiedlung "Glück auf", weil die Häuser so winzig sind. Bis auf 25 Wohnungen hat er auch alle verkauft, seine eigenen Wohnung gleich mit. Kehrseite seines Engagements: In seinem Job war er fast zu erfolgreich: "Ich habe mich damit selbst wegrationalisiert", analysiert Theuer und lacht. Verzweifelt wirkt er nicht. Ein Realist eben.

Jetzt ist Ralf Theuer Bürgermeister - und will das auch bleiben. 2008 möchte er bei den Wahlen wieder als parteiloser Kandidat antreten, obwohl er Mitglied der PDS ist. Für ihn "kann das so weitergehen - bis zur Rente: Was sollte ich auch sonst machen, als Bürgermeister zu sein"?

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