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Alternative zur Schiene Bahnfahrer steigen um

Erst kam Orkan "Kyrill", dann die Warnstreiks - nun droht den Bahnfahrern ein Dauerstreik. Wer nicht vor leeren Gleisen stehen will, muss eine Alternative zur Schiene suchen. Der Run auf Mietwagen, aber auch Mitfahrzentralen und Pendlernetze hat eingesetzt.
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Auf den Autobahnen klumpen sich die Blechlawinen, die Sonne brutzelt vom Himmel, und die Ozonwerte steigen – es ist Ferienzeit. Und ausgerechnet wenn für viele die schönste Zeit des Jahres beginnt und viele Urlauber die Züge füllen, treten die Lokomotivfahrer für höhere Gehälter in den Ausstand. Ihre Gewerkschaft GDL will den Zugverkehr ab Donnerstag punktuell lahm legen – aber was ist, wenn gerade der Bahnhof im eigenen Ort betroffen ist? Wer nicht auf ein eigenes Auto, den Roller oder das Fahrrad umsteigen kann oder mag, ist auf andere Konzepte angewiesen. Das gilt sogar stärker noch für Pendler als für Urlaubsreisende.

Der Run auf Mietwagen habe längst eingesetzt, meldet der Auto Club Europa (ACE). Klein- und Mittelklassewagen seien bereits "so gut wie ausgebucht", habe eine Umfrage bei den Vermietungsgesellschaften Sixt, Hertz, Europcar, Budget und Avis ergeben. Sixt dementierte jedoch die Angabe des ACE. "Wenn es zu einem Streik kommen sollte, gehen wir davon aus, dass mögliche Nachfrageschwankungen mit der bestehenden Flotte abgedeckt werden können", sagte Sixt-Sprecher Frank Elsner. Der Vermieter will jedoch an bestimmten Knotenpunkten wie großen Bahnhöfen und Flughäfen verstärkt Fahrzeuge bereitstellen. Europcar wird seinen Fuhrpark aufgrund der erwarteten starken Nachfrage aufstocken, was ursprünglich erst später im Jahr geplant war.

Das Flugzeug kann zwar für eilige Geschäftsreisende eine Alternative sein, doch nur die Linienflüge. Denn bei Billigfliegern liegen die angesteuerten Flugplätze meist außerhalb der Städte, für die Fahrt zum Zielort sind auch Flugpassagiere meist wieder auf den öffentlichen Verkehr angewiesen, wenn es nicht das teure Taxi sein soll. Doch ob Mietwagen oder Billigflieger – dem Klima bekommen diese Verkehrsmittel nicht, was auch umweltbewussten Bahnfahrern ein Dorn im Auge ist.

Bei Bahnkrisen steigt Interesse an Mitfahrzentralen

Wer in den nächsten Tagen gegen Kostenbeteiligung eine Mitfahrgelegenheit anbieten kann, wird bestimmt nicht alleine in seinem Auto bleiben: Die Mitfahrzentralen in deutschen Großstädten erleben einen riesigen Ansturm - nicht nur die Verlässlichkeit punktet, die Mitfahrt ist meist bis zu zwei Drittel günstiger als die Bahnfahrt. Die Suchanfragen seien in den vergangenen Tagen um bis 20 Prozent gestiegen, sagte der Vorstandsvorsitzende des Verbands der Mitfahrzentralen in Deutschland und Europa, Hans Ludwig Klaus. Auch die Arbeitgemeinschaft Deutscher und Europäischer Mitfahrzentralen (ADM) verzeichnet eine höhere Nachfrage. Inzwischen übertreffe die Zahl der Nachfrager die Zahl derjenigen, die bereit sind, einen Fahrgast mitzunehmen.

Allgemein lassen Krisen bei der Bahn sowie Bahnticket- und Benzinpreiserhöhungen das Interesse an Mitfahrgemeinschaften ansteigen, sagt Martin Buske, Geschäftsführer der Website Mitfahrzentrale.de, die mit 800.000 aktiven, registrierten Nutzern und rund 10.000 vermittelten Plätzen am Tag der größte europäische Mitfahr-Vermittler im Netz ist. Beim Warnstreik der Bahner Anfang Juli lag die Nutzung der Seite mehr als 20 Prozent über dem Durchschnitt. Zwei Tipps hat Buske für Mitfahr-Neulinge: "Schluss mit der "My Car is my Castle"- Einstellung – Mitfahren ist sicher und unproblematisch." Gegen die Scheu, sich zu fremden Menschen ins Auto zusetzen, setzt Mitfahrzentrale.de auf den Community-Gedanken. Die Anbieter von Fahrten stellt ein Foto von sich ins Netz und kann Persönliches mitteilen. Um die Chancen auf eine Mitfahrgelegenheit zu erhöhen, gibt Buske einen zweiten Rat: Nicht nur auf der Website surfen, sondern ein Suchangebot schalten.

Wer bei Mitfahrzentrale.de nicht nur E-Mail-Adresse, sondern auch die Telefonnummer eines Anbieters erhalten will, muss bezahlen. Bei den Warnstreiks packte Buske die Gelegenheit, das Konzept des Mitfahrens bekannter zu machen, beim Schopfe. Er startete mit den Offline-Branchenkollegen ADM und Citynetz eine Aktion, bei der Mitfahrzentrale.de ausnahmsweise auch telefonisch vermittelte und auf die Gebühren verzichtete, sobald der Suchende ein Bahnticket vorweisen konnte. Über eine Neuauflage in den kommenden Tagen wird noch nachgedacht, sagt Buske. Ganz auf Gebühren verzichtet der mit 600.000 registrierten Nutzern ähnlich große Vermittler Mitfahrgelegenheit.de.

Pendlernetze in vielen Kommunen

Eine Hilfe für Pendler, die für ihren täglichen Arbeitsweg ansonsten der Bahn vertrauen, können die "Pendlernetze" sein: In Stuttgart, Nordrhein-Westfalen, im Rhein-Main-Gebiet und in Bayern suchen und bieten Berufstätige im Internet kostenlos regelmäßige Mitfahrgelegenheit an. Organisiert werden die Netze von dem Betreiber von Mitfahrzentrale.de, EuropeAlive, finanziert von Städten und Kreisen, die damit Verkehrs- und Infrastrukturprobleme angehen wollen und die Websites als Bürgerservice verstehen. "Besonders in den letzten beiden Monaten sind die Nutzungszahlen stark gestiegen", sagt Buske, was auf einen Zusammenhang mit den Streiks bei der Bahn hindeute.

So unbequem und ärgerlich die Streiks für Urlauber und Pendler auch sind - sie lenken die Aufmerksamkeit auf Konzepte, die auch zukünftig Lösungen für Verkehrs- und Umweltprobleme bieten können. "Die Leute merken: Man muss nicht allein im Auto fahren", sagt Buske. Und billiger als die Bahn sind Mitfahrgelegenheiten auch noch.

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