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Lawinenforschung Die weiße Gefahr

Auch wenn die Technik der Lawinenwarnsysteme immer ausgefeilter wird: Gute Prognosen sind immer vom Gespür und der Erfahrung der Lawinenforscher abhängig. Ein Fehler kann über Leben und Tod entscheiden - doch auch die Arbeit der Experten ist manchmal hochgefährlich.
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Davos - Um 17 Uhr entscheidet sich, wie die Chancen für den folgenden Skitag in den Bergen stehen. Wenn der Schweizer Lawinenwarnbericht in den Lagezentren eintrifft, löst er eine Welle von Entscheidungen aus: Pistenchefs und Lawinendienste beraten, ob Pisten geschlossen, Passstraßen gesperrt oder sogar ganze Orte evakuiert werden müssen.

"In allen Gebieten liegen Gefahrenstellen vor allem in steilen Nordhängen oberhalb von etwa 2500 m. (...) In den nördlichen Gebieten ist die Verschüttungsgefahr klein." An diesem Tag bleibt es ruhig, trotz einer Warnung: "Oberhalb von 2500 m frischen Triebschnee beachten!"

Zehn Stunden zuvor steht Martin Kern im fahlen Morgenlicht mitten im Davoser Skigebiet in 2540 Metern Höhe. Im Schnee steckt ein digitales Thermometer, die Anzeige zeigt im Lichtkegel der Stirnlampe minus 2,1 Grad. Ein Messstab senkt sich in die Schneedecke: 21 Zentimeter. Der Wissenschaftler vom Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) zieht seine gemusterte Strickmütze etwas fester über die Ohren, dann hebt er mit beiden Händen vorsichtig eine Metallplatte aus dem Schnee.

Darauf liegen fünf Zentimeter Neuschnee, die seit dem Vortag gefallen sind. Auf den wenigen Metern zu der Holzhütte neben dem Versuchsfeld darf nichts davon verloren gehen. Drinnen sticht er mit einem metallenen Tortenring einen Schneekuchen aus und wiegt ihn. Aus Gewicht und Schneehöhe lässt sich die Dichte und damit der Wasserwert des Schnees ermitteln. Doch das erledigt der Computer: Bis 7.30 Uhr müssen die Messdaten ins Tal geschickt werden.

Lawinenprognose unter Zeitdruck

Dort sitzen Martin Kerns Kollegen im Lawinenwarnraum vor ihren Monitoren. Schnee- und Wetterdaten aus den gesamten Schweizer Alpen sind auf einem großen Tisch ausgebreitet. An einer Pinnwand hängen blau eingefärbte Schweizkarten, die Schneehöhen in den Alpen anzeigen. Die Zeit läuft: Bis 8.00 Uhr müssen die Lawinenwarner die Situation in sieben Schweizer Alpenregionen abschätzen.

Zweimal am Tag wird eine Lawinenwarnung ausgegeben: Am späten Nachmittag für die gesamten Schweizer Alpen, am Morgen für sieben Einzelregionen. Auch in schneearmen Wintern wie diesem sind die Frauen und Männer der Lawinenwarnung ständig im Einsatz: Anfang Januar sind bereits zwei Menschen in Schneemassen ums Leben gekommen. Im Schweizer Kanton Bern ist ein Wanderer verschüttet worden, im Val Punt Ota in Graubünden wurde ein Skitourengeher von der gewaltigen Kraft einer Lawine ins Tal gerissen. Er ertrank in einem Bach.

Die tödliche Gefahr hängt von vielen Faktoren ab: Vom Neuschnee, der in den vergangenen Tagen gefallen ist, vom Wind, der den Schnee über Bergkämme bläst und zu rutschigen Schneeansammlungen ablagert, und nicht zuletzt von der Beschaffenheit der Schneedecke. Bei Neuschnee ist die Lawinengefahr meistens am größten. Oft reicht das Gewicht eines Menschen, und die lockeren Schneekristalle hält nichts mehr auf den fest gebackenen alten Schichten. "Jede Schneedecke ist anders und bringt neue Probleme", erklärt Christine Pielmeier. Die 44-Jährige gehört zur Truppe der vier Lawinenwarner am SLF. Im Wettlauf mit der Zeit versuchen die Experten, aus vielen kleinen Puzzleteilchen ein Bild über die aktuelle Lage zusammenzusetzen.

Schneemessung als Nebenjob

Ein dichtes Netz von Beobachtern und automatischen Messstationen spannt sich über das Schweizer Alpengebiet. Mitarbeiter von Lawinen- und Sicherheitsdiensten geben täglich ihre Beobachtungen nach Davos durch. Wie häufig es geschneit hat, wie viel alter Schnee unter dem Neuschnee liegt, ob Lawinen gesprengt wurden oder die Schneedecke von selbst schon einmal abgerutscht ist, das wissen sie am besten. Dazu vermessen 70 Privatleute in einem Nebenjob den Schnee nach den gleichen Methoden wie Martin Kern am Messfeld des Instituts.

Kern hat inzwischen seine Tourenskier wieder angeschnallt und zieht eine saubere Spur durch den Tiefschnee. Die Bergbahn fährt so früh noch nicht. Deshalb müht er sich aus eigener Kraft die 100 Höhenmeter hinauf zum Weißfluhjoch. Schweißbedeckt erreicht er das Institutsgebäude in 2662 Metern Höhe.

Seit 1942 thront der mehrstöckige Bau aus grauem Naturstein neben der Bergstation der Parsennbahn. Die Schneeforscher waren schon vor dem Skizirkus da. 1936 wurden hier erste Versuche gemacht, eine alte Holzhütte diente als erstes Schneelabor der Schweiz. Mittlerweile hat das SLF seinen Hauptsitz am Ortsausgang von Davos. Das Gebäude auf dem Weißfluhjoch wird noch genutzt, um Informationen für die Lawinenwarnung zu sammeln. Es werden aber auch Experimente an der 34 Meter langen Schneerutsche und in Kältelabors vorgenommen.

In dieser Woche schiebt Martin Kern Dienst. Die Skisachen sind zum Trocknen aufgehängt, in Jeans und T-Shirt sitzt er über einer Tasse Kaffee im Aufenthaltsraum. Sofa, Fernseher, Tisch, Küchenzeile und vor dem Fenster das Bergpanorama mit schneebedeckten Dreitausendern - das ist sein Wohnzimmer auf dem Weißfluhjoch. Er liebt das Leben zwischen schroffer Einsamkeit und Skirummel. "Das Haus atmet schon noch Pioniergeist." Die blauen Augen des 36-Jährigen blitzen. Doch die Tage stecken in einem engen Zeitkorsett.

Weltrekordverdächtige Vermessungsdaten

Alle paar Stunden stehen Messungen und Wetterbeobachtungen an. Drei Mal am Tag muss Kern über eine schmale Eisentreppe auf den Gipfel hinter dem Haus klettern, um Wolkenformationen und andere Beobachtungen zu notieren. Dazwischen ist etwas Zeit für die eigentliche Forschungsarbeit des promovierten Physikers.

Die Wetterberichte sind genauso wichtig zur Abschätzung der Lawinengefahr wie das Wissen über den Schnee. Deshalb hat jeder der Lawinenforscher am SLF schon einmal oben am Weißfluh miterlebt, wie sich die Schneedecke vergrößert und verändert. "Man schaut die Schneedecke wesentlich anders an, als wenn man nur im Tal unten sitzt", erklärt Paul Föhn. Dem 66-Jährigen sieht man das Leben in den Bergen an: Die Tage in der Höhenluft haben sein Gesicht gegerbt. 1972 kam er aufs Weißfluhjoch, wurde Leiter der Sektion Schnee und Lawinen. Mittlerweile ist er pensioniert.

Auf das Messfeld ist Föhn heute noch stolz: Es sei das am besten vermessene Schneefeld der Welt. Seit Ende der dreißiger Jahre wurden dort Schneehöhen gemessen und Schneeprofile genommen. Es ist eine Art Heiligtum des SLF. Einfaches Absperrband schützt die Schneedecke und die Messgeräte vor Eindringlingen. Tatsächlich hat sich noch nie ein Skifahrer auf die unberührte Schneefläche zwischen Skipiste und Parsennbahn gewagt.

Wie der Forscher Föhn beinahe selbst zum Lawinenopfer wurde und warum "Triebschnee" so gefährlich ist, lesen Sie im 2. Teil

Verschüttet unter Schneemassen

Föhn ist ein Lawinenforscher der alten Schule. Er hat viel Zeit in den Hängen rund um das Joch verbracht, um Schneedecken im Profil zu untersuchen. Wer die unterschiedlichen Schichten des Schnees kennt, versteht, wie Lawinen ausgelöst werden. Sein Forschungsdrang hätte ihn einmal fast das Leben gekostet: Von einem Kollegen an einem Seil gesichert, hing er etwa 30 Meter in einem steilen Hang nahe des Instituts. Da löste sich die Schneedecke. Eine zwei Meter hohe weiße Wand raste auf ihn zu. Nur dank des Seils wurde er nicht mitgerissen.

Paul Föhn hat Glück gehabt: Ohne Verschütteten-Suchgerät, mit dem Lawinenopfer geortet werden können, stehen die Chancen schlecht. Und dieses Gerät gab es damals noch nicht. Rund die Hälfte aller komplett verschütteten Personen überlebt nicht. Nach 15 Minuten sinkt die Lebenserwartung rapide, nach einer Stunde wird nur noch ein Fünftel der vom Schnee Begrabenen gerettet. Die meisten Lawinenopfer ersticken - wenn sie nicht schon vorher tödlich verletzt wurden: Schneebrettlawinen rasen mit Geschwindigkeiten von mehr als 100 Stundenkilometern die Hänge hinunter. Ein großes Schneebrett kann ein Gewicht von mehr als 100 Tonnen mit sich tragen und rammt Hindernisse mit der Gewalt einer Diesellok.

Am frühen Nachmittag schnallt Martin Kern noch einmal die Skier an. Nach ein paar lockeren Schwüngen über die inzwischen von Skifahrern und Snowboardern bevölkerte Piste erreicht er das Versuchsfeld. Noch einmal wird nach der Schneehöhe gesehen, dann beginnt die Beobachtungstour durchs Skigebiet.

Warnstufe "Drei" ist gefährlicher als "Fünf"

Im Sessellift lässt Kern seinen Blick über die Hänge oberhalb der Skipisten wandern. Links unter dem Schiahorn ist vor ein paar Tagen der Hang etwas abgerutscht, heute hat er gehalten. Schneebretter kann Kern an diesem Tag nicht ausmachen, dafür aber Triebschnee. Hinter dem harmlosen Wort verbergen sich locker aufliegende Schneeschichten, die vom Wind "verfrachtet" wurden, wie es im Fachjargon heißt, und die leicht losgetreten werden können. "Lawinengefahr mäßig" lautet Martin Kerns Einschätzung - Warnstufe zwei. Insgesamt gibt es fünf Warnstufen: Bei Warnstufe vier sind die Skigebiete nur noch teilweise geöffnet. Die meisten Lawinenopfer sterben aber bei Warnstufe zwei oder drei. Dann trauen sich trotz Lawinengefahr noch viele Wintersportler abseits gesicherter Skipisten ins Gelände.

Wenig später, um 15 Uhr, treffen sich Kollegen von Martin Kern zur zweiten Lagebesprechung. Sie werten Berichte aus, nehmen Meldungen von Lawinenabgängen an und studieren Wetterkarten. Computerprogramme helfen den Lawinenwarnern dabei, die Gefahr abzuschätzen. Aus aktuellen Messdaten werden virtuelle Schneeprofile modelliert. Grafiken zeigen Schneehöhen und Neuschneemengen. Doch ganz genau lassen sich Lawinen auch nach 70 Jahren Forschung nicht voraussagen. Trotzdem übt die Arbeit einen großen Reiz aus: "Es fasziniert mich, den Schwachstellen in der Schneedecke auf die Spur zu kommen und mit den Unsicherheiten einer Prognose umzugehen", sagt Christine Pielmeier.

Um 17 Uhr geht das nationale Lawinenbulletin für den kommenden Tag an die Öffentlichkeit. Was dann kommt, liegt nicht mehr in den Händen der Davoser Experten. In dem etwa eine DIN-A4-Seite langen Warnbericht stehen Prognosen - zu gefährlichen Hanglagen, zur Auslösebereitschaft der Schneedecke und zur möglichen Art und Größe der Lawinen. Der Bericht sagt den Verantwortlichen nicht, welche Lawinen sie in den Skigebieten sprengen und welche Pisten sie sperren sollen. Er nimmt Skifahrern auch nicht die Verantwortung für ihr Leben. Das Bulletin ist eine Warnung vor möglichen Gefahren und kann eines nicht ersetzen: die Erfahrung im Schnee.

Annika Graf, gms

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