Zum Inhalt springen
DER SPIEGEL

Legenden Triumph der Wut

Der Regisseur Pepe Danquart hat einen Dokumentarfilm über die lebenslangen Kämpfe des Joschka Fischer gedreht - und erzählt damit die Sieger-Fabel einer Protestgeneration, die längst im Mainstream angekommen ist und nun Ministerpräsidenten stellt.
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Als die Polizisten die Helme aufsetzen, weiß Pepe Danquart, dass es gleich losgeht. Schwarz sind die Helme, schwarz sind die Uniformen, starr schauen die Gesichter. Auf ein Kommando hin setzt sich der Trupp in Bewegung, um die Brücke abzusperren. Die Demonstranten sollen möglichst weit weg bleiben von der Oranienstraße, wo lesbische Pärchen, Tätowierte mit Kinderwagen, alte Punks und türkische Teenager den 1. Mai feiern, mit Gyros, Bier und HipHop.

"Das ist schon eine unglaubliche Energie, eine Macht, die die ausstrahlen, oder?", sagt Danquart, als die Polizistien an ihm vorbeimarschieren. "Die sind jetzt voller Adrenalin, nicht ansprechbar."

Er lehnt an einer Laterne und schaut zu den Polizisten, die sich zu einem schwarzen Riegel zusammenschließen. Neugierig schaut er und mit einer leichten Erheiterung im Gesicht, er erkennt sich selbst in dieser Szene. Das war ja mal er, auf der anderen Seite des Riegels, der Anarcho, der Sponti, der Krawallo, der die Prügel bekam. Das wird man ja nicht mehr los, dieses Veteranentum, diese in der Schlacht geformte Biografie.

"Hier ist jetzt natürlich der schlechteste Ort", sagt Danquart, 56, mit geübtem Blick und erklärt auch gleich den besten Fluchtweg, falls die Demonstranten durchbrechen. "Wenn die ersten Steine fliegen, landen sie genau hier."

Fotostrecke

Doku "Joschka und Herr Fischer": Zeitzeuge in eigener Sache

Foto: Nadja Klier/ X-Verleih

Es bleibt dann doch recht ruhig in Berlin am 1. Mai 2011. Die Leute halten Plakate hoch, weil sie gekommen sind, Plakate hochzuhalten. Sie rufen, weil sie rufen wollen. Sie sind dagegen und wissen nicht, wofür sie sind. "The system ain't gonna change" steht auf einem Plakat. Die Wut ist routiniert geworden. Die Wut ist alt geworden. Die Wut ist Geschichte geworden, weil die Geschichte angekommen ist, wo die Wut mal war.

Das ist die seltsame Pointe in diesem Mai 2011, in diesem Deutschland, in dem plötzlich alle gegen Atomkraft sind und ein Grüner Ministerpräsident wird. Fast wirkt es, als werde Deutschland noch einmal neu gegründet. Auf jeden Fall wird es mit einer neuen politischen Mythologie versorgt: weil die alte Mythologie, die von Adenauer handelte und vom Aufbau dieses Landes, an ihr Ende gekommen ist. Weil die Vereinigung keine gemeinsame Identität geschaffen hat. Weil sich ein neuer Mainstream formt, der die Wut längst aufgesogen und überwunden hat, und weil es neue Helden gibt, widersprüchliche, schwierige Helden, einen wie Joschka Fischer beispielsweise, Visionär, Europäer, Egoist, Marathonläufer, Machtmensch, ein deutscher Golem, ein deutscher Revolutionär, Joschka Fischer.

Gemeinsam im Schützengraben

Das ist es, wovon Pepe Danquart an diesem Abend in Kreuzberg erzählt und auch in seinem neuen Film "Joschka und Herr Fischer", der am 19. Mai in den Kinos anläuft. Danquart ist Dokumentarfilmer, er hat 1994 einen Oscar gewonnen für seinen Kurzfilm "Schwarzfahrer", er hat in "Nach Saison" (1997) vom Bürgerkrieg auf dem Balkan berichtet und spektakuläre Sportfilme gedreht über die Tour de France und Extremkletterer. Fischer und er, sagt Danquart, hätten sich sofort verstanden. Sie wussten, wovon sie sprachen, sie hatten das Gleiche gesehen und erlebt, Kleinbürgertum, Schweigedeutschland, Radikalisierung, Demos, Prügeleien, Barrikadenkämpfe. Es war ein wenig, als wären sie gemeinsam im Schützengraben gewesen. "Joschka und Herr Fischer" ist ein Kriegsfilm geworden.

Ohne Kämpfe, so scheint es, konnte sich diese Generation schlecht finden, Dutschke, Krawalle und dazu "Helter Skelter" von den Beatles, so zeigt Danquart das. So wird in Deutschland Geschichte gemacht, Menschen dreschen aufeinander ein, Menschen weinen, motzen, diskutieren. Nicht viel anders funktionierten auch Fischers heisere Redeschlachten auf den Grünen-Parteitagen, Joschka allein gegen die Welt.

In Kämpfen erst formte diese Generation ihre Identität, Loyalität, Überzeugung. Fischer, das Vertriebenenkind, der katholische Junge in der protestantischen Provinz ist dafür das beste Beispiel. Noch heute spürt man im Film die Härte, die diese Kämpfe mit sich brachten. Fühlt man die Überheblichkeit, die entsteht, wenn jemand Unsicherheit und Kränkungen verbergen will. Erlebt man, was passiert, wenn jemand die Welt andauernd in Freunde und Feinde unterteilt und sich damit zum Henry Kissinger seiner Biografie macht, ein Realpolitiker in eigener Sache.

Danquart stellt Fischer für seinen Film in eine riesige Betonhalle, schon dieser Ort ist martialisch, eine Industrieruine, ein Geschichtsbunker. Er projiziert die Bilder aus Fischers Leben und aus der deutschen Vergangenheit auf Glaswände, das baden-württembergische Dorf Langenburg, wo Fischer aufwuchs, der Club Voltaire in Stuttgart, wo die Linke das Lachen übte, Ohnesorgs Tod, als die Linke die Wut packte. Die Bilder scheinen zu schweben, scheinen durchsichtig zu werden, Fischer wandelt durch sie hindurch, kommentierend, räsonierend, überrascht, selten schwankend, mit sich zufrieden.

Taxifahrer, Arschloch und Minister

Er hat ja auch gewonnen, das zeigen diese Bilder. Sieger schreiben Geschichte, das weiß Fischer. Und "Joschka und Herr Fischer" ist die Siegergeschichtsschreibung jener Protestgeneration, die damals auf der falschen Seite der Mehrheit war und heute mitten drin steht, in jenem driftenden, sich verändernden Deutschland, das sich sucht, mal mit Sarrazin-Scheindebatten, mal mit einem Film wie dem von Danquart. Er ist ein Dokument aus 60 Jahren Gegendeutschland, und am Ende wurde daraus auch der Triumph eines Mannes, der mal Taxifahrer, Arschloch und Minister war, der dem Land beibrachte, wie wichtig es ist, wieder Krieg zu führen.

Es ist eine sehr westdeutsche Geschichte, die Danquart da erzählt, und zwar ganz explizit, weil er die zivilisierende, freiheitliche Fabel der BRD erklären will und auch einen didaktischen Auftrag verspürt. Er will Fischers Leben zum Nachkriegspanorama vergrößern, er hat dazu Interviews in den Film geschnitten mit dem SPD-Mann Hans Koschnick etwa oder dem Sponti-Millionär Johnny Klinke. Er hat auch eines mit der Schauspielerin Katharina Thalbach geführt, auf einem alten Rummelplatz im Osten von Berlin - und wie Thalbach von der DDR schwadroniert, wo man mit der Vergangenheit aufgeräumt habe, wie das auf Putzdeutsch heißt, wo Geld nicht die "Verhandlungsbasis war zwischen Menschen" und mit der Abschaffung des Privateigentums die "Rahmenbedingungen der Utopie" geschaffen worden waren: Da entlarvt sich heute neu das DDR-Denken.

Was der DDR fehlte, sagt Danquart, was damit auch dem vereinten Deutschland teilweise fehlt, das waren eben die Erfahrungen von 68, von Europa und Pop, all das, was ihm, dem 1955 leicht Nachgeborenen, so wichtig ist. Dass sie damals, das zeigt der Film, aber auch so aggressiv wirkten, so verkrampft, so unfrei in dem, was sie taten und wie sie waren, das kann man von heute aus entweder befremdlich oder verständlich finden. Die Gegnerschaft erwuchs aus dem Willen, sich selbst zu definieren. Es war eben ein rohes, von Altnazis durchsetztes Land.

"Im Taxi bin ich zum Realo geworden"

Daniel Cohn-Bendit, der natürlich auch in Danquarts Film auftaucht, ist da eine angenehme französische Ausnahme. Er erzählt, wie er "Austern für alle" forderte, als er aus Paris nach Frankfurt kam, was die "verkniffenen" deutschen Genossen natürlich überhaupt nicht verstanden. Er erzählt, wie er Fischer, der sich vom putzgruppenhaften, prügelnden Aktivistentum zurückgezogen hatte, zum Eintritt in die Grünen-Partei überredete. Der sagt in dem Film dazu den schönen Satz: "Im Taxi bin ich zum Realo geworden."

Danquart sucht in diesen Figuren immer auch sich selbst, er spiegelt seinen Weg, er reflektiert die Versuchung der Gewalt, diesen linken Terror-Irrweg, auf den, das möchte Danquart ändern, die Geschichte von 68 in Deutschland allzu oft reduziert wird. Und so versucht er, aus Fischer einen Gegen-Baader zu machen, der einen Satz sagt, den auch Baader hätte sagen können: "Das Großartige und das Hundsgemeine liegen in jedem Menschen ganz eng beieinander." Danquart inszeniert den Film mit der Gewissheit einer Gegengeschichte, er arbeitet mit dem Anspruch, ein Anti-Aust zu sein: Der Fischer-Komplex statt "Der Baader Meinhof Komplex".

Dass Fischer selbst wohl nur einen halben Meter davon entfernt war, in den Terror abzugleiten. Dass ein Schritt gereicht hätte. Dass andere, die so dachten wie er und Polizisten verprügelten wie er, später im Sarg oder auf der Anklagebank landeten: Das macht den Reiz von Fischer aus, der in seiner Gefährdetheit immer auch gefährlich wirkte.

Fischer wird in Danquarts Darstellung zu einer Figur, die die wilde Energie jener Jahre bündeln konnte. Dazu holt Danquart die Band Fehlfarben vor die Kamera, deren Song "Ein Jahr (Es geht voran)" 1980 die Mischung aus Euphorie und Verzweiflung, die die deutsche Linke prägte, in Musik packte. Dazu fährt Danquart nach Wyhl, wo er Marie-Reine Haug trifft, eine Veteranin des Atomprotests, die ähnlich beseelt und erleuchtet wirkt wie der grüne Konservative Winfried Kretschmann. Dazu trifft Danquart den "Haschrebellen" Norbert Kröcher, der die Terrorgruppe Bewegung 2. Juni mitgründete und mit einer Art von Hass auf dieses Land lebte, die Fischer immer fremd blieb. Fischer hatte früh gelernt, dass Bücher Waffen sein können und Worte weh tun sollten.

Joschka Fischer wurde erst durch seine Gegner groß

Die Biografie ist das Schlachtfeld dieser Generation, so wie ihre Leben durch die Kämpfe um Brokdorf, Gorleben, Wackersdorf und die Startbahn West geprägt wurden. Danquarts Film erzählt damit von der Psychopathologie, die auch Teil der BRD war, dieses Erfolgsmodell, das in der Figur des Rechthabers Fischer seine Symbolfigur fand. Er erzählt einerseits das Offensichtliche für die Generation um die 40. Für die Jüngeren aber, die nicht wissen, wer der dicke, schwitzende Mann dort ist ( Franz Josef Strauß), und die in einem vereinigten Land aufgewachsen sind, das jetzt ganz natürlich den Ethiklehrer Kretschmann als Ministerpräsidenten bekommt, für all die bietet sich diese Geschichte ganz anders dar: komplizierte einfache Leben, vorangetrieben von einer Wut, die sich nicht herstellen lässt, die es aber einfacher machte, seinen Platz zu finden. Auch Joschka Fischer wurde groß erst durch seine Gegner.

Danquart begann seinen Film 2005, als er Fischer im Wahlkampf begleitete, den mächtigen, müden Außenminister. Es ist ein anderes Land, auf das dieser Film nun 2011 trifft, nach fast sechs Jahren Merkel ist Deutschland grüner als unter Rot-Grün, und es diskutiert über einen grünen Kanzlerkandidaten, der, das fürchten viele, Fischer heißen könnte, weil alles andere nur die B-Lösung wäre.

Das sind die Pointen, die Tücken, die Überraschungen solcher Geschichten. Danquart, der heute Professor ist, trägt selbst genug dieser biografischen Eskapaden im Gesicht, wie er so da steht, auf der Oranienstraße in Kreuzberg, und sich eine Zigarette dreht.

Und dann kommt auch noch Jürgen Hempel durch die Menge, mit einem Bier in der Hand, mit einer Trainingsjacke bekleidet, jener Hempel, der in Danquarts Film mit Hemd und Anzug gezeigt wird und eine wichtige Rolle spielt: Hempel, der schon als Jugendlicher in der DDR Streit mit dem SED-Regime hatte, der Anfang der achtziger Jahre aus der DDR ausreiste und sich in Frankfurt sofort in den Streit um die Startbahn West warf, arbeitete später als Bauingenieur ausgerechnet an Flughäfen und war als Projektleiter an der Planung zum Flughafen Berlin Brandenburg beteiligt.

Pepe Danquart liebt solche Geschichten, verbogene, geborgene Leben. Man sieht Hempel das irgendwie an. Der Erfolg und die Angst, der Sieger und der Gebrochene, alles ist da, auf eine sehr menschliche und dabei irritierende Art. Etwas flirrt in seinen Augen.

Hempel küsst Danquart zum Abschied auf die Wange. "Jürgen gibt es zweimal, einmal im Anzug und einmal in der Trainingsjacke", sagt Danquart und schaut, wie Hempel in der schwarzgekleideten Menge verschwindet, über zerborstene Plastikbecher steigt, zum Klang der Musik, und über allem liegt der Geruch von Grill und Haschisch. Kreuzberg, juste milieu, Siegerland BRD.

Joschka Fischer kommt aus diesem Milieu. Das war Joschkas Welt, sie sind Joschkas Erben. Die meisten hier werden Fischer für einen Opportunisten halten.

Joschka Fischer ist der Joe Mustermann der gebrochenen Biografien.